Gedanken zu Corona

Corona, Corona über alles – sorry, so kommt es mir inzwischen vor.

Vorab: ich bleibe fast immer zu Hause, mein Mann, der eh arbeitet, macht die Außenkontakte.

Wir haben meine Eltern im Haus, wir sind vorsichtig.
Ich hadere auch nicht mit all den Maßnahmen an sich, die angeordnet werden. Ich habe weder das Gefühl, in einer Diktatur zu leben, noch dass die Meinungsfreiheit abgeschafft ist.
Dennoch scheint es verpönt, sich Gedanken über die andere Seite der Maßnahmen zu machen. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich mich traue, diesen Text zu veröffentlichen.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich etwaigen Spott und Beschimpfungen, Ablehnung auch durch Personen, die ich schätze, aushalte.
Aber es muss erlaubt sein, über die Kehrseite der Maßnahmen nachzudenken.

Ich muss in letzter Zeit immer häufiger an ein menschenverachtendes Experiment denken, dass Friedrich II zugeschrieben wird: er ließ Babies in zwei Gruppen aufteilen, die eine ohne Ansprache und mehr als die notwendigsten Berührungen, die anderen mit liebevollen Ammen, die sich „normal“ um sie kümmerten. Die Kinder aus der ersten Gruppe starben.

Das Beispiel ist weit hergeholt, keine Frage. Aber es zeigt doch deutlich, was in unserer Gesellschaft vielen Menschen seit Wochen fehlt: direkte, reale menschliche Zuwendung. Ich habe einen Mann, der mich in den Arm nimmt, und meine Eltern im Haus. Ich gehe regelmäßig zur Physiotherapie – damit hat es sich dann. Immerhin habe ich in der Zeit mehrere Freundinnen und Freunde und auch jedes meiner Kinder einmal auf Abstand sehen können – ich bin also deutlich glücklicher dran als viele andere.
Und genau darum geht es mir jetzt: die Familien, die am Ende ihrer Kräfte angekommen sind. Die Kinder, die jetzt noch mehr abgehängt sind, weil ihre Eltern ihnen nicht bei der „Schule zu Hause“ helfen können – oder denen gar das Equipment fehlt, um am virtuellen Klassenzimmer, so es denn existiert, teilnehmen zu können. Die Familien, in den Gewalt eskaliert, die Opfer, die ihren Peinigern nicht mehr wenigstens stundenweise entfliehen können, die Menschen, die sich vor Ausweglosigkeit das Leben nehmen. Die, die Depressionen entwickeln und die, deren physische Erkrankungen sich verstärken. Die an anderen Krankheiten erkrankten, die sich aus Angst vor Ansteckung nicht zum Arzt trauen, deren Operationen verschoben wurden, die sich lebensnotwendigen Behandlungen nicht unterziehen können – aus Angst oder weil der Arzt den Termin abgesagt hat – letzteres geschieht auch in vielen Fällen bei doch angeblich so notwendigen Vorsorgeuntersuchungen.
Die, die nicht damit klarkommen, dass ihr Therapeut nur noch Bildschirmtherapie anbietet. Die, die an Einsamkeit zu Grunde gehen, die alleine sterben, weil (längerer) Besuch in Krankenhäusern und Senioreneinrichtungen auch im Sterbefall nicht erlaubt ist, und alle, die einen geliebten Toten nicht würdig beerdigen können und damit nicht gut trauern vermögen.
Ich könnte diese Liste jetzt noch endlos weiterführen, es fehlen noch alle die, für die die Krise vielleicht das wirtschaftliche Ende bedeutet, und, und, und.
Bei all dem mag es sich um Minderheiten handeln – zusammen sind es viele menschliche Schicksale, die man sicher nicht aufrechnen kann gegenüber Coronatoten oder solchen, die bleibende Schäden zurückbehalten: aber Tote sind tot, egal auf welche Art und Weise sie gestorben sind und bleibende Schäden sind auf beiden Seiten zu erwarten.
Vorsicht: ich will nicht, dass jetzt alle Maßnahmen ausgesetzt werden und alles wieder wird wie vorher. Was ich möchte, ist, dass darüber nachgedacht wird. Und was ich mir wünschen würde, ist, dass die Wissenschaftler, Politiker und Journalisten, die darüber nachdenken (und ich meine ausdrücklich nicht die Verschwörungstheoretiker, genauso wenig wie die, die meinen, die „Alten“ müssten halt „geopfert werden“) genauso ernst genommen werden wie die Virologen – denn es geht beiden um die Menschen – oder zumindest auch um die Menschen.
Das das nicht geschieht, sieht man daran, dass für Fußballer alle drei Tage eine Testung ins Auge gefasst wird, damit der Spielbetrieb wieder losgehen kann – aber nicht einmal für Kontaktpersonen, wenn diese keine Symptome haben: ich dachte, wir tragen Masken, weil auch symptomfreie Menschen ansteckend sein können?

Und dann ist da noch die rechtliche Seite. Immer mehr Gerichte entscheiden, dass die Maßnahmen so in ihrer Gänze, ohne definierten Endpunkt, ständige Überprüfung ihrer Notwendig- und Verhältnismäßigkeit, nicht rechtens sind – und werden dafür ebenfalls an den Pranger gestellt.
Gerade in diesem Bereich herrscht Willkür: warum ist eine Menschenkette auf Abstand und mit Maske im Braunkohlerevier verboten, rechte Demonstranten aber lässt man gewähren? Wo ist da die Verhältnismäßigkeit?

Nochmal: ich rufe nicht danach, sofort alles abzubrechen. Ich möchte genau wie jeder andere, dass unser Gesundheitssystem in der Lage bleibt, die Pandemie zu beherrschen.
Für mich sind Virologen Wissenschaftler, die nicht dauernd ihre Meinung ändern, sondern die auf Grund neuer Erkenntnisse zu neuen Einschätzungen kommen.

Ich behaupte auch nicht, die Lösung zu kennen.

Was ich möchte, ist, dass die Diskussion sachlicher wird, das beide Seiten in den Blick genommen werden und somit immer mehr Anordnungen auf Sinn, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft werden – und das fortdauernd.

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