Kriegsende. 8. Mai 1945
Ich stelle es mir mal vor, so, wie es die Mitglieder meiner
Familien erlebt haben müssen, die gerade keine Mitläufer waren: endlich raus
aus der Angst, endlich wieder frei leben können.
Und es war Frühling, die Natur wagte einen Neuanfang – das
half.
Die Situation damals war sicher alles andere als gut: zu
wenig Nahrungsmittel, die Familie meiner Mutter nach dem Großangriff auf
Krefeld einquartiert bei, Gott sei Dank wohlwollenden, Verwandten in St. Tönis:
beengte Verhältnisse, Mangel überall, aber, wie sagte meine Mutter, damals 14 heute
Morgen: „es war eine Befreiung. Die grässlichen Nazis waren weg, wir mussten
keine Angst mehr haben, dass uns irgendein Nachbar, Verwandter oder vermeintlicher
Freund anzeigte wegen irgendwelcher Kleinigkeiten“ Und die Hoffnung stieg, dass
die Soldaten zurückkehren mögen – meine Großväter haben den Krieg alle
überlebt.
8.Mai 2020
75 Jahre später. Wir können uns den Mangel, der damals
herrschte, und die Angst, die umging, heute überhaupt nicht vorstellen. Dennoch
vergleichen viele Menschen unsere heutige Situation mit dem Krieg:
Ausgangssperren, man kann nicht alles kaufen (nun ja, Klopapier und
Desinfektionsmittel, Mehl und Hefe – aber keiner, der in halbwegs geregelten
Verhältnissen lebt, musste auch nur ansatzweise hungern, und da es Wasser und
Seife gibt, konnte man sich dennoch gut reinigen…)
Immer lauter werden die Stimmen, man solle endlich
vergessen. Einen Schlussstrich ziehen. Ich meine, gerade das darf nicht
geschehen. Schon an den Vergleichen der Kontaktbeschränkungen mit der Nazizeit
kann man erkennen, dass man eher gedenken sollte – so, dass es bei allen
ankommt.
Was wissen wir heute schon, wie sich Krieg anfühlt? Deshalb
ja können wir auch sagen, die Flüchtlinge sollen lieber für ihr Land kämpfen
und es wiederaufbauen, so wie unsere Eltern und Großeltern das getan haben –
wie sagte meine Mutter: „hätten wir weggekonnt, wir wären geflohen“
Was wissen wir heute schon davon, wie die Angst gewesen sein
muss? Sicher heute gibt es auch Nachbarn, die das Ordnungsamt anrufen, weil sie
glauben, da halte sich jemand nicht an die Coronaregeln. Aber ist das wirklich
das gleiche? Was erwartet einen denn? Im schlimmsten Fall ein Bußgeld, in den
Knast kommt man höchstens als infizierter Flüchtling aus einer
Massenunterkunft, wenn man sich gegen die Unterbringung mit Gesunden wehrt…
Ich fühle mich nicht schuldig an dem, was in der Nazizeit in
Deutschland passiert ist. Nicht nur, weil meine Vorfahren keine Mitläufer
waren, sondern auch, weil ich mit Mitte 50 einfach zu jung bin, um schuldig zu
sein. Ich fühle mich aber verpflichtet, die Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen:
die Erinnerung daran, dass entsetzliche Taten geschehen sind, nur weil Menschen
einen anderen Glauben hatten oder später, als es dann auch die Konvertiten gab,
einfach nur die falschen Vorfahren (denn Deutsche waren es ja, seit
Jahrhunderten waren die Familien in Deutschland ansässig). Nur, weil Menschen
eine andere sexuelle Ausrichtung hatten als üblich. Nur weil Menschen sich sozial
für andere engagierten. Nur weil Menschen ihre Meinung laut äußerten (ja, das
darf man heute in Deutschland. Manchmal bekommt man starken Widerspruch, und
Hass ist keine Meinung, aber man darf die Regierung kritisieren wie man will…)
Oder weil sie dem falschen, angeblich minderwertigen Volk angehörten. Oder….
Am 8.Mai wurde Deutschland vom Naziregime befreit. Nicht von
den Nazis, sicher nicht. Aber von diesem Regime, das versucht hat, die Welt zu
unterdrücken und ganze Völkerscharen auszurotten. Das Menschen in lebenswertes
und lebensunwertes Leben einteilten.
Am 8.Mai wurde Deutschland und die Welt vom Naziregime
befreit. An uns ist es heute, Deutschland auch endlich von den Nazis zu
befreien – und der ganzen Welt zu zeigen, dass ein Miteinander in Frieden und
Freundschaft lebenswerter ist als Abgrenzung nach außen.
Die Zeitzeugen werden älter und weniger: meine Mutter wird
demnächst 90, und sie gehört ja zu den Kindern der Nazizeit. Sie hat auch
erzählt, wie leicht für Kinder die Verführung war: die Freundin, ein Jahr älter
und damit ein Jahr früher im BDM erzählte immer vom Turnen – der Jahrgang
meiner Mutter machte nur langweiligen Kram, so dass sie nach anfänglichem
Enthusiasmus zur Erleichterung ihrer Eltern nicht mehr hinwollte. Deshalb
müssen wir uns erinnern und diese Erinnerung an die kommenden Generationen
weitergeben, intensiv und frühzeitig: damit schon die Schüler verstehen, wie
fatal es damals war.
Deshalb bin ich dafür, den 8.Mai zum Feiertag zu machen: Der
Tag der Befreiung der Welt von den Nazis, als Zeichen, dass der Kampf gegen den
Faschismus nie enden darf.