(Ein Rückblick aus persönlicher Sicht)
Ja. Definitiv. Wenn ich die Schlagzeilen zu den Geflüchteten
lesen, wenn ich die Zustände in den Lagern bedenke, wenn ich die Kommentare
dazu lese – dann hat das Jahr gar nicht erst stattgefunden. Nur dass halt jetzt
noch mehr tote Geflüchtete zu beklagen sind.
Ja. Definitiv. Ich bin ein Kontaktmensch. Ein Kontaktloses
Jahr hat nicht stattgefunden für mich. Diese Krankheit tötet Menschen oder
hinterlässt ihnen lebenslange Andenken. Sie legt unser ganzes öffentliches
Leben lahm, hier und überall auf der Welt. Sie verbreitet sich mit wahnsinniger
Geschwindigkeit. Kann weg, das Jahr der Pandemie.
Ja. Definitiv. Ein Jahr, in dem viele eigentlich gesunde mittelständische
Betriebe in Konkurs gingen. Ein Jahr, in dem viele Menschen ihre Arbeit
verloren haben. Ein Jahr, in dem Schülerinnen und Schüler, die sowieso schon
schlechte Ausgangsbedingungen haben, noch mehr abgehängt wurden. In dem
Femizide und häusliche Gewalt zugenommen haben. So ein Jahr kann weg.
Ja. Definitiv. Wenn ich die Berichte über die Krisenherde
dieser Welt lese, über Kriege, die eigentlich vorbei sind und doch noch
weitergehen wie in Syrien. Über Waffenverkäufe. Über Ausbeutung. Über nicht
stattfindende, dringende Maßnahmen zum Klimaschutz, dann hat sich nichts
geändert seit 2019. Dann hat das Jahr gar nicht stattgefunden.
Ja. Definitiv. Ein Jahr ohne Konzerte und Kultur. Kann weg.
Ja. Definitiv. Kirchlicherseits der Skandal um Kardinal
Woelki, die unsäglichen Weihnachtspredigten über die die Tatsache, dass Frauen
auf keinen Fall Priester werden können und darüber, dass Gott den Mensch als
Mann und Frau erschaffen hat und nicht queer, die Predigten zur Abtreibung, die
mit keinem Wort erwähnen, was in der Kirche mit den Geborenen passiert – da ist
etwas eskaliert. Kann weg.
Stimmt das? Kann das Jahr weg?
Nein, kann es nicht. Wenn ich sehe, wie viele Menschen immer
noch bereit sind, zu helfen. Wie viele deutsche Städte im Laufe des Jahres
angeboten haben, Geflüchtete aufzunehmen jenseits aller Quoten, dass auch in
diesem Jahr weitere „sichere Häfen“ dazugekommen sind, weitere
Seenotretterschiffe und und und – dann macht dieses Jahr auch Hoffnung und kann
bleiben.
Nein, kann es nicht. Es war auch nicht wirklich kontaktlos,
dieses Jahr, Kontakte wurden nur anders gehalten. Meine Mutter z.B. spielt fast
jeden Sonntag abend skypenderweise mit ihren Enkeln und hat so mehr Kontakt als
vor der Pandemie. Viel lief mit viel Kreativität draußen: von der
Geburtstagsfeier dreier Menschen im Garten mit 3 Paaren auf Abstand, einem
Grill, den jeder für sich selbst bedienen musste und einem Geschenkehaufen mitten
auf dem Rasen, einer Beerdigung, bei der nach der Beisetzung der letzte, vom
Verstorbenen gekaufte, schottische Whisky ausgeschenkt wurde bei entsprechender
Begleitmusik, statt Beerdigungskaffee, draußen trotz eisiger Kälte (aber der
Whisky wärmte ja), natürlich auf Abstand und mit Maske, Treffen zu Wanderungen,
Radtouren und Spaziergängen und sogar der eine oder andere Urlaub, wenn auch
anders, als geplant: dann stelle ich fest, dass das Jahr die Kreativität, was
Begegnungen angeht, geweckt hat und hoffentlich nicht alles anschließend
verschwindet.
Nein, kann es nicht. Es ist viel passiert in diesem Jahr,
die Pandemie hat neben der Krankheit selbst für viel Elend in der Welt gesorgt,
das stimmt. Aber es gab auch das andere: spontane Bildung von Gruppen, die
Menschen in Quarantäne mit Einkäufen versorgten. Solidarität überall, Hilfe für
alle, jenseits von Klopapierhamstern. Wildfremde Menschen, die einander grüßen
und ein paar Worte miteinander wechseln, vielleicht froh, mal einem realen
Menschen gegenüber zu stehen. Auf dem Weihnachtsspaziergang ein „Fröhliche
Weihnacht“ von wirklich jedem, dem man begegnet: es hat sich was verändert,
zwischenmenschlich. Was positives, wie ich finde.
Nein, kann es nicht. Zwar hat sich der Frieden tatsächlich
nicht weiter ausgebreitet in der Welt, und die Klimakatastrophe geht weiter.
Aber eine Menge Menschen haben sich virtuell vernetzt, die einander vielleicht
sonst nie über den Weg gelaufen wären. Die sich in Videokonferenzen kennen- und
schätzen gelernt haben, die ihre Arbeit nun anders bündeln und so vielleicht
auch mehr Erfolg haben. Menschen, die aufs Rad umgestiegen sind. Das erneuerbare
Energiengesetz, das vielleicht immer noch schlecht ist, aber besser als
geplant. Es muss noch viel passieren, keine Frage, aber es ist vielleicht ein
Licht am Horizont erkennbar.
Nein, kann es nicht. Ja, es war ein Jahr ohne Konzerte. Aber
viele haben den Eintrittspreis nicht zurückgefordert. Viele folgen nun ihren
Lieblingskünstlern im Netz. Auch hier haben sich mit viel Kreativität Formen
gefunden, die es vorher so noch nicht gab – das gibt Hoffnung, dass da das eine
oder andere auch bleibt.
Nein, kann es nicht. Ein Vorsitzender der Bischofskonferenz,
der sich positiv zur Frauenweihe äußert. Pfarrer, die sich trauen, ihren Kardinal
zu kritisieren. Priester, die mit ihrer Meinung, es müsse was passieren, nicht
mehr hinterm Berg halten. Es tut sich was. Es gibt Hoffnung.
Was nun mein Jahr angeht, war auch nicht alles schlecht. Ich
habe angefangen zu studieren, langsamer zwar als geplant, aber es geht. Online.
Und hab darüber tatsächlich schon Menschen kennengelernt, deren Bekanntschaft
ich nicht mehr missen möchte. Ich hatte einen wunderschönen Urlaub mit Kindern,
Geschwistern, Neffen und Nichten in meiner zweiten Heimat Osttirol, auf
Abstand, aber das Wetter war ja schön… Statt Slowenien waren wir an der Ostsee
und auf Usedom, im Oktober, und sind da viel Rad gefahren – Abstand war
eigentlich überall möglich. Ich durfte neue Menschen kennenlernen. Wir sind uns
näher gekommen, mein Mann und ich – aber auch meine Eltern und ich noch einmal
auf eine andere Art und Weise, dadurch, dass wir ja die einzigen Realkontakte
sind, die wir regelmäßig haben, weil wir zusammenwohnen. Ein befreundetes
Ehepaar, das in der Nachbarschaft wohnte, meinte sogar: durch den Abstand sind
wir uns näher gekommen und ja, da ist was dran. Mit den Kindern spielen wir online
und haben dadurch regelmäßigeren Kontakt als vorher. Und es steigt die
Vorfreude und die Hoffnung auf bessere Zeiten.
Es war sicher kein gutes Jahr, das Jahr 2020. Aber wenn man genau hinschaut, dann findet man ganz viele positive Ansätze…