Worte statt Wörtern

Ich bin ja Christin. Und ich befasse mich regelmäßig mit den Texten der katholischen Sonntagsliturgie. Letzen Sonntag war das Evangelium an der Reihe, in dem Jesus einen Taubstummen heilt. Der Schlüsselsatz in meinen Augen ist folgender: „Jesus seufzte und sagte zu ihm Effata, das heißt: öffne Dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte richtig reden“ (Mk 7,34bf)

Mir kam in den Kopf, dass ich immer wieder feststelle: wenn mir die Worte fehlen (und die Ereignisse der letzten Zeit: der Blick nach Afghanistan, auf den Klimawandel, auf den Wahlkampf und Querdenker, z.B. führen dazu), wenn ich nichts mehr hören oder lesen will weil ich es nicht ertrage, dann prodziere ich Wörter – weil ich eigentlich sprachlos bin.

Mit diesen Gedanken habe ich folgenden Text geschrieben:

Wenn mir Worte fehlen
stürze ich mich auf Wörter
Wenn mir alles zu viel wird
verschließe ich meine Ohren
Ich will nichts mehr hören
Ich kann nichts mehr sagen
Hilflos drifte ich durch die laute Stille


Aus meinen Wörtern
sollen Worte werden
Meine Ohren will ich öffnen
hinhören und zuhören
Meine Augen nicht verschließen
sondern hinsehen


Dann wird meine Hilflosigkeit
sich wandeln
ich werde hören und sehen
wo Hilfe nottut
ich werde Worte finden
die aufrütteln
trösten
helfen  



Was ist eigentlich Hoffnung?

Worauf hoffen Sie? So fragt public forum in Heft 12/21 auf Seite 50 die Leserinnen und Leser unter dem Titel „Hoffen über die Pandemie hinaus“. Ein Satz sprang mir ins Auge: „Wann immer jemand mit der Realität überfordert war… musste eben mehr oder weniger untätig gehofft werden“ – und der stieß mir auf, habe ich doch selbst Anfang des Jahres „Hoffnungsbriefe“ verschickt an Menschen, die ich kenne, nach dem Losprinzip. Grund genug für mich also, mich dem Thema Hoffnung zu widmen.

Was ist Hoffnung eigentlich? „Hoffnung ist eine zuversichtliche innerliche Ausrichtung, gepaart mit einer positiven Erwartungs­haltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht. Das kann ein bestimmtes Ereignis sein, aber auch ein grundlegender Zustand wie etwa anhaltende Gesundheit oder finanzielle Absicherung. Hoffnung ist die umfassende emotionale und unter Umständen handlungsleitende Ausrichtung des Menschen auf die Zukunft. Hoffend verhält sich der Mensch optimistisch zur Zeitlichkeit seiner Existenz“ finde ich als Definition bei WikiPedia. Ah ja. Also doch etwas Positives? Oder eher eine Art Resignation?
Manche erinnern sich vielleicht an meinen Text hier vor ein paar Monaten, in dem ich versuchte, etwas Aufmunterndes zu schreiben in einer Zeit, irgendwann vor Ostern, als alles nur noch schlimmer wurde. Ich schrieb am Ende:“ Mehr kann ich Euch heute nicht geben. Mehr habe ich selbst nicht.“ Das scheint mir die Hoffnung, die die Dame aus dem Zitat gemeint hat – die Hoffnung, dass es, wider Erwarten, besser werden kann, ganz ohne konkrete Anhaltspunkte. Und für mich war es genau diese Hoffnung, die dafür gesorgt hat, dass ich nicht ganz unterging im Tal der Tränen – der Grat war schmal, ich hatte Glück, ich bin nicht abgerutscht. Eine Hoffnung, die auf nichts beruht außer dem Gefühl, dass es einfach irgendwann besser werden muss. Eine Hoffnung, die sich auf nichts gründet, auf keiner noch so vagen Gewissheit, die aber dennoch trägt.

Also mich. In meinem Leben habe ich die Erfahrung gemacht, dass so viel dran ist an dieser Liedzeile „life happens when you’re making plans“ (One Republic, Wild Life): das Leben passiert, noch während wir Pläne machen. Und nicht immer geht, bei aller Hoffnung, am Ende alles gut aus. Spätestens als mein Kind trotz all meiner, all unserer Hoffnung vor der Geburt gestorben war, wusste ich, dass das so ist. Wir alle haben wahrscheinlich den einen oder anderen Schicksalsschlag erlebt, haben gehofft und doch verloren. Haben vielleicht am Krankenbett von Freund:innen oder Verwandten gesessen, gehofft, vielleicht gebetet – aber der Tod war stärker. Wie kann jemand, der so etwas erlebt hat, noch hoffen? Im März war ich sehr nah dran an der Hoffnungslosigkeit – aber ich habe drauf vertraut, dass sie wiederkehrt, die Hoffnung. Nun ist sie wieder da, vorsichtig, aber doch ja.
Was ist also Hoffnung? Die Hoffnung stirbt zuletzt, wird immer gesagt. Hoffnung ist das Vertrauen darauf, dass nicht alles vorbei ist. Das Vertrauen darauf, dass es weitergeht, vielleicht nicht so bequem, vielleicht anders, aber weiter geht.
Worauf ich hoffe: dass wir die Hoffnung nicht wieder verlieren. Dass immer zumindest ein kleine Fünkchen bleibt, kein „es hät noch immer jut jejange“, aber doch: bisher ging es immer irgendwie weiter. Eine Hoffnung, die uns nicht resignieren lässt, sondern die uns fähig macht zu Handeln und mitzuarbeiten an einer besseren Zukunft.

Gedanken an einem Sonntag im Mai 2021

Muttertag. Der Tag nach dem 8. Mai – Tag der Befreiung. Der Tag, an dem die Kontaktsperren und Ausgangssperren für Geimpfte aufgehoben wurden und die Testpflicht.

Mai. Der Monat, in dem die Natur explodiert. Der Monat, in dem die Kirche Maria, die Mutter Gottes ehrt – und in dem Maria 2.0 ihren Ausgangspunkt nahm. Der Monat, der in so vielen Liedern herbeigefleht wird: „Komm lieber Mai und mache die Bäume wieder grün“ und lobend besungen „der Mai, und der war grüne…“.

Und ich sitze hier, an meinem Schreibtisch, vor dem offenen Fenster und hoffe auf den Frühlingstag, der uns versprochen wurde, und mache mir so meine Gedanken. Der Gottesdienst war, wie immer seit über einem Jahr, ein Hausgottesdienst, und das Evangelium endete mit den Worten: Dies trage ich euch auf, dass ihr einander liebt (Joh 15,17).

Und mir geht durch den Kopf, dass das der Schlüssel ist. Menschen, die sich lieben, die sich wirklich lieben, tun einander nichts. Es geht um echte, selbstlose Liebe, nicht um die „wenn Du mich liebst dann…“- Liebe und auch nicht um die Liebe, die eine Gegengabe fordert.

Wenn wir Menschen einander lieben würden, dann gäbe es keine Kriege mehr. Wenn wir einander lieben würden, dann würden wir uns freuen für die, die jetzt wieder mehr dürfen. Und die wiederum, so sie ebenfalls ihre Mitmenschen lieben würden, agierten mit Augenmaß, so, dass sie uns nicht neidisch machen.

Wenn wir Menschen einander lieben würden, dann könnten Meinungen nebeneinander stehen bleiben, denn sie alle wären, so verschieden ihr Inhalt auch sein möge, als von der Menschenliebe getragen akzeptierbar. Wir würden nicht mehr Religionen gegeneinanderhetzen und in der Kirche mit Machtworten agieren müssen.

Von der Liebe getragen, könnten wir auch die verschiedenen Lebensweisen und Traditionen gut nebeneinanderstehen lassen – denn auch sie wären ja von der Liebe getragen.

Eine ideale Welt, die es so nicht gibt, das weiß ich auch. Aber für mich kann ich daraus ziehen: jeder Mensch hat ein Lebensrecht, ein Recht auf anderssein, ein Recht auf eigene Meinung, auf anderes Denken und andere Traditionen. Solange das nicht menschenverachtend wird, kann ich diskutieren, mich daran reiben, Argumente bringen: aber sachlich und höflich, denn auch der oder die andere hat ein Recht darauf, mir gegenüber wiederum Argumente zu bringen, meine Argumente zu widerlegen. Es ist wichtig, dass wir dies (wieder) lernen. Und ich bin überzeugt: auch wenn ich nur in meiner kleinen Umwelt agieren kann, so ist es doch so, wie Dom Helder Camara, der brasilianische Erzbischof und Befreiungstheologe (1909-1999) gesagt hat: „Wenn eine allein träumt, ist es nur ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit.“ Lassen wir uns also von der Liebe tragen, lassen wir sie wachsen, wie die Natur wächst in diesen Tagen – lassen wir uns vom Mai inspirieren.

Wie gehen wir miteinander um?

Bischof Oster sorgt sich um die Debattenkultur. Weil niemand kapiert, dass das Lehramt das letzte Wort hat. Das habe ich gerade gelesen und ich habe gedacht: ja, Sorge um unsere Debattenkultur habe ich auch. Allerdings deutlich andere als dieser Passauer Bischof.

Wie viele wissen, bin ich ja Mitglied bei #ichbinhier, einer Gruppierung, die versucht, Hass und Hetze aus den Kommentaren im Internet zu vertreiben. Es sind Menschen aller – na ja, fast aller – politischen Hintergründe, Extremisten mal ausgenommen – und es geht nicht darum, politische Meinungen zu verbreiten, sondern eine bessere Debattenkultur im Internet.

Durch meinen Einsatz für dieses Thema bin ich es gewohnt, beschimpft zu werden – wer keine Argumente hat, der muss ja irgendwie klarkommen – es macht mir in der Regel nicht mehr viel aus. Aber seit einem Jahr merke ich eine Veränderung: die Debatten, egal, worum es geht, werden immer holzschnittartiger, es gibt nur noch schwarz und weiß. Wer differenzierte Meinungen zu bestimmten Themen hat, der wird halt von beiden Seiten beschimpft: weist man darauf hin, dass Kinder unter den Schulschließungen leiden, ist man Querdenker, verteidigt man AHA-Regeln ist man Schlafschaf – und das passiert mir immer häufiger. Wer differenziert schreibt gehört auf jeden Fall zu den Gegnern und wird beschimpft, so oder so.

Wenn ich im Kommunionunterricht mit den Kindern über den Friedensgruß sprach, habe ich immer erklärt, dass man sich dabei in die Augen sehen muss, wenn der Friede überspringen soll – jetzt, wo man sich die Hand nicht mehr geben kann, gilt das noch mehr. Und das kommt mir bei der ganzen Diskussion in den Sinn: wenn wir kommentieren, schreiben wir dann etwas, was wir auch so sagen würden, wenn wir der oder dem anderen dabei in die Augen schauen müssten? Ist das ein reines Internetproblem oder spielt sich das auch im realen Leben ab? Was geht da in uns vor?

Wenn wir der oder dem anderen in die Augen schauen und genau zuhören, so scheint mir, wird das Gespräch in der Regel sachlicher. Weil man den oder die andere wahrnimmt und das, was sie oder er sagt. Im realen Leben kann man das ausprobieren. Fürs Internet bleibt, es sich vorzustellen. Vielleicht hilft das, genauer zu lesen, was der oder die andere meint und Zwischentöne zu erkennen. Debatte heißt: zuhören und antworten auf das, was mein Gegenüber sagt. Und nicht: Ende der Debatte, Holzhammer, nur ich hab recht und Du bist doof.

Ich würde mir wünschen, dass wieder hinkriegen. Weil ich sonst Angst habe vor dem, was bleibt, wenn dieser ganze Mist vorbei ist.

Denkt mal drüber nach und bleibt gesund – und debattiert ruhig mit mir 😉

Hoffnung

Für eine von mir mitbetreute Facebookgruppe, in der es darum geht, sich in diesen Zeiten gegenseitig zu helfen, wurde ich gebeten, nach dem Ergebnis der Ministerkonferenz etwas aufmunterndes zu schreiben, vielleicht mit Blick auf die Bibel.
Ich habe den Stab mal aufgenommen – auch, um meine eigenen Gedanken zu sortieren. Ich bin und war wütend, wütend auf die Regierung, wütend auf Politiker, die solche Katastrophen wie Kassel zulassen und denen nichts anderes einfällt als eine Notbremse zu ziehen, die den Namen nicht verdient, da sie eine Kollision nicht verhindern wird: Notbremsen zieht man sofort, meinetwegen mit kurzem Vorlauf, aber nicht erst in anderthalb Wochen.

Und dann kommt mir jemand mit der Bibel…

Ich habe also versucht, runterzukommen. Und lande dann bei drei Texten, die mir persönlich was bedeuten. Das eine ist, etwas verfrüht, ein Auferstehungsevangelium: „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. (…)“ (Joh 20,11ff) Hoffnungslosigkeit pur. Keine Aussicht auf irgendwas. Schon der Tod Jesu lässt alle Träume enden, und nun, als sie ihm die letzten Dienste tun will, ist der Leichnam auch noch gestohlen. Und dann kommt es völlig anders, als sie es sich auch nur geträumt hätte:

Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du?Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister.“

Aus der tiefsten Hoffnungslosigkeit wird sie herausgeholt. Und ich denke, dass kennen wir auch in unserem Leben: wenn es total finster aussieht, und wir nicht mehr ein und aus wissen, dann kommt oft irgendwo ein Lichtlein her, dass zwar nicht unbedingt alles wieder ins rechte Lot setzt, dass uns aber doch wenigstens die Hoffnung zurückgibt. Und ja, ich weiß, wovon ich rede, diese totale Finsternis habe ich in meinem Leben selbst schon erlebt.

Die zweite Stelle, die mir einfällt, ist der Gang der Jünger nach Emmaus: auch da totale Hoffnungslosigkeit, auch da ein Erkennen.

Und dann, das war mein erster Gedanke: Psalm 23 „Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Meine Lebenskraft bringt er zurück. Er führt mich auf Pfaden der Gerechtigkeit, getreu seinem Namen. Auch wenn ich gehe im finsteren Tal, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab, sie trösten mich. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, übervoll ist mein Becher. Ja, Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang und heimkehren werde ich ins Haus des Herrn für lange Zeiten.“

Wenn wir uns also abgeregt haben, wenn wir neu schauen, wie es weitergehen kann, dann denke ich, wird sie auch wieder erscheinen, die Hoffnung:

Hoffnung
Im Dunkel ahnt man es doch
Das Licht wird kommen
Es bricht sich Bahn
Durch die Finsternis der Nacht
Durch die Nebel der Hoffnungslosigkeit
Durch die Wolken der Angst
Auf einmal bricht es sich Bahn
Ein Strahl nur oder mehr
Ein winziges Wolkenloch
Die Sonne ist da
Auch wenn sie verdeckt ist
Man ahnt es doch
Das Licht wird kommen

Mehr kann ich Euch heute nicht geben. Mehr habe ich selbst nicht.

Tägliche Impulse zur Fastenzeit.

Trotz Corona gemeinsam unterwegs

Mit dem Aschermittwoch fängt die Fastenzeit an. 40 Tage: so lange fastete Jesus in der Wüste, so lange war Mose auf dem Berg Sinai, so lange wanderte Elija zum Berg Horem. 40 Jahre wanderte das Volk Israel durch die Wüste. 40 Tage lang bereitet die Kirche, bereiten die Gläubigen sich auf das Osterfest vor: sie machen sich auf den Weg zum Osterfest.

Dieser Weg ist nicht immer für jeden so klar und einfach vorgegeben. Überhaupt sind Lebenswege verschieden.

Die Fastenzeit könnte ein Anlass sein, den eigenen Lebensweg zu überprüfen. Zu schauen, ob die Richtung noch stimmt. Ob das Ziel noch vor Augen liegt. Vielleicht muss man nachjustieren, vielleicht auch mal die Richtung ändern oder umkehren.

Ich lade sie und Euch ein, sich gemeinsam auf den Weg zu machen zum Osterfest. Mit einen kleinem Impuls zu einem Wort, einem Satz, einen Abschnitt aus den Tagestexten:
Ihr findet sie hier:
https://st-michael-krefeld.bistumac.de/aktuell/nachrichten/a-blog/Trotz-Corona-gemeinsam-unterwegs/
Oder hier:
https://www.bistum-aachen.de/Frauenseelsorge/aktuell/nachrichten/nachricht/Trotz-Corona-gemeinsam-unterwegs/

Wer möchte kann sie auch per Mail bekommen: da brauche ich dann einen Hinweis und eine Adresse.

Gehen wir gemeinsam los und überprüfen unseren Lebensweg.

Coronablues am Rhein

Gestern stand ich am Ufer des steigenden Rheins. Und schaute so auf die gewaltigen Fluten. Und da kam mir folgender Gedanke:

Seit 30 Millionen Jahren fließt dieser Fluss Richtung Nordsee. Er hat seinen Verlauf mehrfach geändert, sein Aussehen, seine Länge, seine Wassermenge – aber er war immer da. Von den Kelten wurde er als Vater Rhein verehrt – die Bezeichnung hat sich bis heute gehalten. Der Name Rhein kommt wohl schlicht und ergreifend von fließen – und geht auf eine indogermanische Wurzel zurück, aus der sich auch das altgriechische Wort ῥέω [reo] (fließen), das lateinische Wort rivus (Fluss) und heutige Worte wie river und rio entwickelten, auch das deutsche Wort rinnen kommt wohl daher.

Der Rhein war also immer „der Fluss“. Er war ein Anlass für romantische Dichtungen und auch schon früh Touristenmagnet, zu einer Zeit, als es Touristen noch gar nicht gab.

Der Rhein war immer schon Transportstraße, er hat Menschen miteinander verbunden und auch dafür gesorgt, dass das Rheinland bunt und multikulturell wurde. Echte Rheinländer:innen haben eine buntschillernde Ahnenreihe – deshalb galt das Rheinland lange auch als sehr tolerant, Köln zumindest ist es bis heute, Krefeld nahm als religionsfreie Stadt Menschen aus aller Herren Länder auf, die wegen ihrer Religion verfolgt wurden, und die Vergangenheit war genauso bunt, wie es hoffentlich die Zukunft ist.

Der Rhein hat Menschen miteinander verbunden, aber auch voneinander getrennt: ihn zu überqueren war nicht leicht, und Brücken wurden immer mal wieder vom Hochwasser mitgerissen oder vom Feind zerstört – wie schwierig dieser Brückenbau bis heute ist, kann man an den verschiedenen Autobahnen erkennen – kaum eine Rheinbrücke, die noch in absolut Ordnung ist, jedenfalls von Koblenz aus rheinabwärts.

Der Rhein gab auch Nahrung, bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein gab es Fischfang an seinen Gestaden – und jetzt, Gott sei Dank, ist er auch wieder Lebensraum für Fische geworden.

Er kann grausam sein: wenn er sein Bett verlässt, reißt er gerne mal alles mit, was ihm im Weg steht – und er kann lieblich dahinplätschern. Vor zwei Jahren war er so niedrig wie nie, die Mahnung an uns, endlich zu erkennen, wie wir mit unserer Erde umgehen, ein Zeichen von unendlicher Trockenheit.

Aber eins blieb immer gleich: der Rhein floss und fließt dahin, mal langsam, mal wild und schnell, völlig unbeeindruckt von dem, was um ihn rum passiert. Wenn der Weg verbaut wurde wie z.B. durch die Vulkane der Eifel, dann suchte er halt einen anderen. Wenn man ihm den Platz nahm, in dem man versuchte, ihn zu kanalisieren, dann nahm er ihn sich halt.

Was das mit uns zu tun hat: vielleicht gucken wir uns etwas davon ab. Vielleicht versuchen wir, weniger auf das zu achten, was uns stört, sondern konzentrieren uns aufs Wesentliche: auf den Lebensfluss. Die Welt wandelt sich, Gutes passiert, Schlimmes passiert – und wir leben weiter, Tag für Tag, Schritt für Schritt. Versuchen wir, das mit der Ruhe dieses Flusses zu tun, nicht träge, nicht im Stillstand, fließend, aber den Blick aufs Ziel gerichtet. Und vielleicht erkennen wir dann, wo der Weg gangbar wird für uns.

Hoffnung

Im Dunkel ahnt man es doch

Das Licht wird kommen

Es bricht sich Bahn

Durch die Finsternis der Nacht

Durch die Nebel der Hoffnungslosigkeit

Durch die Wolken der Angst

Auf einmal bricht es sich Bahn

Ein Strahl nur oder mehr

Ein winziges Wolkenloch

Die Sonne ist da

Auch wenn sie verdeckt ist

Man ahnt es doch

Das Licht wird kommen

2020 – kann das weg?

(Ein Rückblick aus persönlicher Sicht)

Ja. Definitiv. Wenn ich die Schlagzeilen zu den Geflüchteten lesen, wenn ich die Zustände in den Lagern bedenke, wenn ich die Kommentare dazu lese – dann hat das Jahr gar nicht erst stattgefunden. Nur dass halt jetzt noch mehr tote Geflüchtete zu beklagen sind.

Ja. Definitiv. Ich bin ein Kontaktmensch. Ein Kontaktloses Jahr hat nicht stattgefunden für mich. Diese Krankheit tötet Menschen oder hinterlässt ihnen lebenslange Andenken. Sie legt unser ganzes öffentliches Leben lahm, hier und überall auf der Welt. Sie verbreitet sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit. Kann weg, das Jahr der Pandemie.

Ja. Definitiv. Ein Jahr, in dem viele eigentlich gesunde mittelständische Betriebe in Konkurs gingen. Ein Jahr, in dem viele Menschen ihre Arbeit verloren haben. Ein Jahr, in dem Schülerinnen und Schüler, die sowieso schon schlechte Ausgangsbedingungen haben, noch mehr abgehängt wurden. In dem Femizide und häusliche Gewalt zugenommen haben. So ein Jahr kann weg.

Ja. Definitiv. Wenn ich die Berichte über die Krisenherde dieser Welt lese, über Kriege, die eigentlich vorbei sind und doch noch weitergehen wie in Syrien. Über Waffenverkäufe. Über Ausbeutung. Über nicht stattfindende, dringende Maßnahmen zum Klimaschutz, dann hat sich nichts geändert seit 2019. Dann hat das Jahr gar nicht stattgefunden.

Ja. Definitiv. Ein Jahr ohne Konzerte und Kultur. Kann weg.

Ja. Definitiv. Kirchlicherseits der Skandal um Kardinal Woelki, die unsäglichen Weihnachtspredigten über die die Tatsache, dass Frauen auf keinen Fall Priester werden können und darüber, dass Gott den Mensch als Mann und Frau erschaffen hat und nicht queer, die Predigten zur Abtreibung, die mit keinem Wort erwähnen, was in der Kirche mit den Geborenen passiert – da ist etwas eskaliert. Kann weg.

Stimmt das? Kann das Jahr weg?

Nein, kann es nicht. Wenn ich sehe, wie viele Menschen immer noch bereit sind, zu helfen. Wie viele deutsche Städte im Laufe des Jahres angeboten haben, Geflüchtete aufzunehmen jenseits aller Quoten, dass auch in diesem Jahr weitere „sichere Häfen“ dazugekommen sind, weitere Seenotretterschiffe und und und – dann macht dieses Jahr auch Hoffnung und kann bleiben.

Nein, kann es nicht. Es war auch nicht wirklich kontaktlos, dieses Jahr, Kontakte wurden nur anders gehalten. Meine Mutter z.B. spielt fast jeden Sonntag abend skypenderweise mit ihren Enkeln und hat so mehr Kontakt als vor der Pandemie. Viel lief mit viel Kreativität draußen: von der Geburtstagsfeier dreier Menschen im Garten mit 3 Paaren auf Abstand, einem Grill, den jeder für sich selbst bedienen musste und einem Geschenkehaufen mitten auf dem Rasen, einer Beerdigung, bei der nach der Beisetzung der letzte, vom Verstorbenen gekaufte, schottische Whisky ausgeschenkt wurde bei entsprechender Begleitmusik, statt Beerdigungskaffee, draußen trotz eisiger Kälte (aber der Whisky wärmte ja), natürlich auf Abstand und mit Maske, Treffen zu Wanderungen, Radtouren und Spaziergängen und sogar der eine oder andere Urlaub, wenn auch anders, als geplant: dann stelle ich fest, dass das Jahr die Kreativität, was Begegnungen angeht, geweckt hat und hoffentlich nicht alles anschließend verschwindet.

Nein, kann es nicht. Es ist viel passiert in diesem Jahr, die Pandemie hat neben der Krankheit selbst für viel Elend in der Welt gesorgt, das stimmt. Aber es gab auch das andere: spontane Bildung von Gruppen, die Menschen in Quarantäne mit Einkäufen versorgten. Solidarität überall, Hilfe für alle, jenseits von Klopapierhamstern. Wildfremde Menschen, die einander grüßen und ein paar Worte miteinander wechseln, vielleicht froh, mal einem realen Menschen gegenüber zu stehen. Auf dem Weihnachtsspaziergang ein „Fröhliche Weihnacht“ von wirklich jedem, dem man begegnet: es hat sich was verändert, zwischenmenschlich. Was positives, wie ich finde.

Nein, kann es nicht. Zwar hat sich der Frieden tatsächlich nicht weiter ausgebreitet in der Welt, und die Klimakatastrophe geht weiter. Aber eine Menge Menschen haben sich virtuell vernetzt, die einander vielleicht sonst nie über den Weg gelaufen wären. Die sich in Videokonferenzen kennen- und schätzen gelernt haben, die ihre Arbeit nun anders bündeln und so vielleicht auch mehr Erfolg haben. Menschen, die aufs Rad umgestiegen sind. Das erneuerbare Energiengesetz, das vielleicht immer noch schlecht ist, aber besser als geplant. Es muss noch viel passieren, keine Frage, aber es ist vielleicht ein Licht am Horizont erkennbar.

Nein, kann es nicht. Ja, es war ein Jahr ohne Konzerte. Aber viele haben den Eintrittspreis nicht zurückgefordert. Viele folgen nun ihren Lieblingskünstlern im Netz. Auch hier haben sich mit viel Kreativität Formen gefunden, die es vorher so noch nicht gab – das gibt Hoffnung, dass da das eine oder andere auch bleibt.

Nein, kann es nicht. Ein Vorsitzender der Bischofskonferenz, der sich positiv zur Frauenweihe äußert. Pfarrer, die sich trauen, ihren Kardinal zu kritisieren. Priester, die mit ihrer Meinung, es müsse was passieren, nicht mehr hinterm Berg halten. Es tut sich was. Es gibt Hoffnung.

Was nun mein Jahr angeht, war auch nicht alles schlecht. Ich habe angefangen zu studieren, langsamer zwar als geplant, aber es geht. Online. Und hab darüber tatsächlich schon Menschen kennengelernt, deren Bekanntschaft ich nicht mehr missen möchte. Ich hatte einen wunderschönen Urlaub mit Kindern, Geschwistern, Neffen und Nichten in meiner zweiten Heimat Osttirol, auf Abstand, aber das Wetter war ja schön… Statt Slowenien waren wir an der Ostsee und auf Usedom, im Oktober, und sind da viel Rad gefahren – Abstand war eigentlich überall möglich. Ich durfte neue Menschen kennenlernen. Wir sind uns näher gekommen, mein Mann und ich – aber auch meine Eltern und ich noch einmal auf eine andere Art und Weise, dadurch, dass wir ja die einzigen Realkontakte sind, die wir regelmäßig haben, weil wir zusammenwohnen. Ein befreundetes Ehepaar, das in der Nachbarschaft wohnte, meinte sogar: durch den Abstand sind wir uns näher gekommen und ja, da ist was dran. Mit den Kindern spielen wir online und haben dadurch regelmäßigeren Kontakt als vorher. Und es steigt die Vorfreude und die Hoffnung auf bessere Zeiten.

Es war sicher kein gutes Jahr, das Jahr 2020. Aber wenn man genau hinschaut, dann findet man ganz viele positive Ansätze…

Weihnachten 2020

Wir erwarten Gottes Sohn
wir erwarten den Friedensfürst
wir erwarten die Hoffnung für die Welt

Weihnachten in Deutschland
Besuch kommt – nicht
die Pflegeheime – mehr oder weniger abgeschottet
vielerorts nur ein*e Besucher*in, wenn überhaupt
Singen unterm Tannenbaum
– nur, wenn man alleine ist
Geschenkeaustausch – fällt aus
oder per Post, vielleicht vor der Haustür
kein Familienfest, kein Familienfriede
Kontaktverbot, Quarantäne
Hoffnungslosigkeit überall
Einsamkeit breitet sich aus

Weihnachten an Europas Rändern
im Lager nicht genügend Wasser
kein Zugang zu Hygiene und Gesundheit
Kein Schutz vor Kälte
Auf dem Meer keine Rettung
keine Zukunft
Hoffnungslosigkeit überall
Angst breitet sich aus

Weihnachten in den Krisengebieten dieser Welt
Bomben fallen, Schüsse sind Alltag
Krieg, Hungersnot, Vertreibung
Klimawandel macht Heimat unbewohnbar
Keine Zukunft
Hoffnungslosigkeit überall
Angst breitet sich aus

Wir erwarten Gottes Sohn
wir erwarten den Friedensfürst
wir erwarten die Hoffnung der Welt

Er wird geboren
bei den Einsamen
im Lager
im Schlauchbot
im Krisengebiet

Gott hat keine anderen Hände als die unseren:
Machen wir sein Kommen sichtbar
Dann wird es Weihnachten werden


© Edith Furtmann 12/2020