Flüchtende an Europas Außengrenzen – Weltfrauentag 2020

Weltfrauentag. Eigentlich ein Anlass, über Gleichberechtigung in Kirche und Gesellschaft zu schreiben, hier und überall auf der Welt. Da liegt noch viel im Argen, auch bei uns, wenn man z.B. weiß, dass in Deutschland jeden 3. Tag eine Frau ermordet wird, weil sie ihren Partner verlassen hat. Die Ideologie, die da hinter steckt, ist immer noch die Gleiche: die Frau ist dem Mann untertan – und wenn sie es nicht ist, nun, dann muss das Konsequenzen haben. Auch die Kleinigkeiten, wenn z.B. bei „wichtigen“ Fragen eher dem Mann als der Frau Kompetenz zugesprochen wird, dass die Bezahlung immer noch nicht überall gleich ist, dass die sogenannten Frauenberufe, insbesondere die Pflegenden und Erziehenden, deutlich schlechter bezahlt sind als andere, obwohl sie doch die Verantwortung für uns Menschen als Menschen haben – geschenkt.

Ich bin in relativ emanzipatorischer Atmosphäre groß geworden, in einer traditionellen Familie, in der die Mutter für ihre Töchter genau das nicht wollte: dass sie zwangsläufig in traditionellen Strukturen landen.  Mein Vater sagte zwar durchaus so Dinge wie: wenn eine Frau nicht Brotschneiden kann, kann sie nicht heiraten (deshalb beherrsche ich diese Kunst bis heute nicht), aber abgesehen von solchen Sprüchen hat er uns Geschwister immer gleichbehandelt, unabhängig vom Geschlecht. In einer echten emanzipierten Gesellschaft wäre mein Leben zwar anders verlaufen, erst recht in einer emanzipierten Kirche. Aber ich war und bin mir immer bewusst: ich bin trotz allem privilegiert. Ich habe eine ausgezeichnete Schulbildung genossen, habe studieren dürfen, und ich hatte das Glück, meine Kinder immer entweder gut versorgen zu können oder aber gut versorgt zu wissen.

Und genau das ist hier und heute mein Problem. Vor ein paar Tagen gab es auf RTL ein Interview mit einer jungen Frau, 19 Jahre alt, die an der türkisch-griechischen Grenze mit ihren Kindern, 7 und 4 Jahre alt, ausharrt, um in die EU zu kommen. Sie möchte, wie sie in durchaus verständlichem Englisch erzählte, gerne hier die Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu machen, vielleicht zu studieren.
Die Kommentare, die von deutschen Männern und Frauen, ja, auch Frauen, dazu abgegeben wurden, waren entlarvend: Selbst schuld, wer mit 19 schon 2 Kinder hat, will nur in die soziale Hängematte, sie kann offensichtlich nix außer Kinder kriegen, ist sicher strohdumm, wahrscheinlich hat sie noch nie eine Schule von innen gesehen, die will nur schmarotzen.

Und mir wurde mal wieder klar: bei allem Leid der Welt sind neben den Kindern die Frauen, die am meisten leiden müssen – sie sind aber zusätzlich die, die am meisten Häme ertragen müssen. Kann irgendeiner von den Kommentatoren auch nur erahnen, in welcher Lage diese Frau ist? Glaubt wirklich irgendjemand, dass sie an ihrem Schicksal selber schuld ist? Dass sie mit 12 bewusst das erste Kind bekommen hat, um nicht arbeiten zu müssen? Dass sie mit 2 Kindern diese erbärmliche Flucht auf sich genommen hat, weil sie sich in die soziale Hängematte legen will? Und dass jemand, der strohdumm ist, Englisch lernen kann?

Was geht da vor? Was geht in Menschen vor, die hier in Deutschland aufgewachsen sind, hier leben, von denen man eigentlich glauben müsste, dass sie die abendländischen Werte, die wir ja immer so gern verteidigt haben, mit der Muttermilch aufgesogen haben?

Mich wundert nicht, dass unsere Werte nichts mehr gelten. Sicher würde keiner sagen: ich bin für die Abschaffung der Menschenwürde. Aber es scheint doch so zu sein, dass jeder entscheiden will, für wen sie gilt – für solche Frauen schon mal nicht.

Die neuen deutschen Werte scheinen zu sein: Deutschland und die (richtigen) Deutschen zu erst, Abschottung gegenüber allem nichtdeutschen, Augen und Ohren verschließen vor dem Elend der Welt. Und den Mund nur aufreißen gegenüber denen, die noch Mitleid und Menschlichkeit verspüren. Und wenn einem da nix sachliches mehr einfällt – nun, dann kann man die „Gutmenschen“ ja beschimpfen, zum Arzt schicken, einen guten Zahnarzt empfehlen…

Das sind die Momente, wo es mich gruselt. Die Momente, in denen ich mich frage, was ich tun kann, außer schreiben, außer laut werden, außer auf die Straße gehen. Aber das sind auch die Momente wo ich weiß, dass ich das tun muss: schreiben, reden, laut werden. Und beten. Beten, dass wenigstens die Politiker endlich zur Einsicht kommen, dass wir den Menschen helfen müssen. Dass sie nichts dafürkönnen, diese Frauen, und diese Kinder. Und dass sie ein Recht haben auf Zukunft, so wie jeder andere Mensch auf dieser Erde auch. Wir sind ein reiches Land. Wir gründeten uns einmal auf Werte. Ich bete, dass wir uns darauf besinnen. Ich bete, dass unsere Werte nicht mit den Toten im Mittelmeer ersaufen.

Das Boot ist noch lange nicht voll

Nach meinen Gedanken zu Europa komme ich jetzt näher. Deutschland. Ein Land, in dessen Verfassung, dem Grundgesetz, an aller erster Stelle steht: die Würde des Menschen ist unantastbar.

Was Mut macht: viele Städte und Gemeinden, Landkreise und Bundesländer und auch Kirchengemeinden sind bereit, Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Sie haben Kapazitäten und Möglichkeiten, sie sagen genau, was sie leisten können. Das würde die Lage vor Ort deutlich entschärfen, und insbesondere unbegleitete Kinder und Familien mit Kindern bekämen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft, Nahrung, Hygiene, ärztlicher Versorgung und einem geordneten Verfahren, dass über ein Asyl- und/oder Bleiberecht entscheiden würde. Diese Bereitschaft lässt mich hoffen, dass wir doch noch nicht so tief gesunken sind, wie es erscheint.

Auf der anderen Seite steht die Politik, vor allem die Politiker mit dem „C“ im Namen ihrer Partei. Sie verhindern, dass diese Menschen hierherkommen können, indem sie so Sprüche klopfen wie: „nur im Rahmen aller/oder zumindest mehrerer Europäischer Staaten“, „ein Alleingang wäre fatal“, „wir können keinen aufnehmen, wir haben keinen Platz“, „jeder Flüchtling mehr bringt eine Stimme mehr für die AfD“ und vieles mehr, was in meinen Ohren teilweise so menschenverachtend klingt, dass ich es gar nicht aufführen möchte. Lindner spricht von „Kontrollverlust“ und Friedrich Merz sagt den Flüchtlingen direkt ins Gesicht, dass wir sie hier nicht haben wollen. Ursula von der Leyen (ok, die ist nun wieder Europa) lobt Griechenland – das Land, was gerade völkerrechtswidrig das Asylrecht außer Kraft gesetzt hat und Menschen, die bereits in Griechenland angekommen sind, zurückschickt – gegen jede Regelungen der Europäischen Union, gegen die Menschenrechte.

Und alle sind sich einig: kein zweites 2015. Nun, dass will niemand. Aber damit es nicht dazu kommt, muss man jetzt (und hätte man schon vor Monaten und Jahren) die kontrollierte Einreise ermöglichen, und ja, wenn‘s nicht anders geht, im Alleingang. Es gäbe keinen Kontrollverlust wie 2015: wir wüssten ja, wer kommt, wir würden die Menschen ja quasi kontrolliert einfliegen. Wir wissen nun auch wie’s geht – 2015 war da ein gutes Übungsjahr. Viele, die damals gekommen sind, sind inzwischen durch ein Anerkennungsverfahren gegangen, haben Deutsch gelernt und sind in Arbeit oder Ausbildung. Die Kinder gehen zur Schule – bei den meisten läuft es. Und wir haben Kapazitäten – es wurden damals ja gar nicht so viele wie befürchtet. Die Aufnahmewilligen haben ja geprüft, was sie leisten können. Und keiner will, dass alle Flüchtlinge dieser Welt nach Deutschland kommen. Und die meisten wollen auch nicht, dass auch die, die kein Bleiberecht haben, bleiben.

Aber: wir hätten die Möglichkeit den Menschen zu helfen. Wir nennen unsere Tradition und unsere Werte christlich: das, was da jetzt abgeht, dieser Grenzkrieg gegen die Ärmsten der Armen, neues Geld an Herrn Erdogan bis zur nächsten Erpressung, das ist nicht mehr christlich und auch nicht human. Das ist menschenverachtend.

Denken wir immer daran: es geht nicht um Verhandlungsmasse. Es geht um Menschen, die nach unserer Verfassung alle die gleiche Würde haben. Diese Würde wird an den EU-Außengrenzen mit unserem Geld, unserer Zustimmung und demnächst möglichweise mit unseren Soldaten mit Füßen getreten. Warum? Kapazitätsgründe können es, wie aufgeführt, nicht sein. Am Geld kanns auch nicht liegen, wenn unsere Regierung bereit ist, der Türkei noch einmal welches zu geben.

Am Erstarken der AfD? Nun, wenn wir jetzt nicht handeln, hat sie gewonnen. Dann ist Deutschland wieder ganz unten angekommen, so wie schon einmal vor fast 100 Jahren.

Daher gibt es nur eins: gehen wir auf die Straßen, machen wir Druck, damit unsere Politiker so handeln, wie es unseren Werten entspricht, egal ob christlich oder humanistisch: jetzt zeigt sich, wer Rückgrat hat, die Geschichte kennt und die Menschenrechte und unser Grundgesetz schützen will.

Quo Vadis, Europa?

An der Außengrenze Europas sterben Menschen. Schon länger übrigens, nicht erst seit gerade. Nunmehr auch an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, nicht mehr nur im Mittelmeer.
Menschen, die als Bedrohung angesehen werden, als Welle, die uns überkommt, als Überschwemmung – und europäische Soldaten schießen. Mindestens mit Tränengras…

Was sind das für Menschen? Es sind Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nicht in ihrer Heimat bleiben konnten – wegen Krieg, weil sie in die verschiedenen Armeen gezwungen werden sollten, weil sie unterdrückt werden, weil sie einfach Angst um ihr Leben haben. Sie fliehen, weil sie keine Zukunft mehr sehen für sich und ihre Kinder. Vom afrikanischen Kontinent fliehen viele, weil da die Folgen des Klimawandels bereits real sind und ganze Landstriche veröden.
Einige von ihnen haben es in die Türkei geschafft und dort bisher irgendwie überlebt – oft ohne ein Recht auf Arbeit, ohne Bildung, ohne menschenwürdige Unterkunft, ohne Zugang zu ausreichend Lebensmitteln, Hygiene, ärztlicher Versorgung. Dafür hat die Türkei Geld kassiert von der EU. Nun war es Erdogan nicht genug Geld, angeblich ist auch nicht alles gezahlt worden, jedenfalls hat der Herr Erdogan nun beschlossen, die Menschen Richtung Griechenland, Richtung EU zu schicken. Sie sind Erpressungsmittel, Verfügungsmasse für ihn.

Wer jetzt sagt, dass kommt völlig überraschend, der hat jahrelang die Augen verschlossen. Vor der Realität.

Und nun: Was passiert? Militär marschiert auf um die Flüchtlinge zurückzudrängen, man schießt mit Tränengas auf unbewaffnete Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Auf dem Mittelmeer drängt die Küstenwache die Flüchtlinge mit Booten zurück und an den Küsten warten rechte Schläger und hindern die Menschen am Anlanden. Wen sie auf dem Weg dorthin so treffen, den verprügeln sie, wenn er irgendwie verdächtig aussieht, also möglicherweise einer NGO angehört, Journalist ist oder gar Flüchtling. Griechenland. Die Wiege der Demokratie, die Wiege unserer Zivilisation.

Und was sagt das restliche „christliche Abendland“? Wir dürfen Griechenland nicht im Stich lassen – so weit, so einverstanden. Bei den Verantwortlichen heißt das aber: Militär schicken, um beim Grenzschutz zu unterstützen. Schießen da demnächst auch deutsche Soldaten auf Flüchtlinge? Dann hätte Frau von Storch ja das, was sie sich schon vor Jahren gewünscht hat…

Herr Merz (ein richtig reicher Steuersparer, dem die Hartz IV Sätze zu hoch sind, der in den CumEx Skandal verwickelt ist und außerdem, und daraus zieht er seine Legimitation, CDU-Vorsitzender werden möchte) sagt ihn Richtung Flüchtlinge: bleibt wo ihr seid, wir haben keinen Platz für Euch. Erinnert mich fatal an die CDU der 80er Jahre: das Boot ist voll schrien sie damals…

Griechenland setzt das Asylrecht aus, der Aufschrei bleibt aus – Menschenrechte gelten nichts mehr in Europa, wenn man seine Privilegien und seinen Reichtum schützen will…

Griechenland hätte schon lange Hilfe gebraucht: Hilfe bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge, durch Hilfe vor Ort und Verteilung der Menschen auf alle Länder der EU. Um Weihnachten ging das Elend der unbegleiteten Kinder durch die Presse. In Deutschland gab es jede Menge aufnahmewillige Städte – aber nein, sie durften nicht. Auch jetzt gibt es wieder Städte, die sich anbieten, eine Anzahl der Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, weisen nach, dass sie die Kapazitäten haben: die „christ“Demokraten interessiert es nicht.

Europa muss sich schnellstens überlegen, was Europa ausmacht. Bisher gehörte die Einhaltung der Menschenrechte dazu. Diese werden nun mit den Füßen getreten. Wie soll das weitergehen? Es werden immer mehr Menschen fliehen müssen – und es werden auch immer wieder Menschen nach Europa kommen wollen. Vor 80 Jahren hat man die Juden nicht haben wollen und zugesehen, wie sie starben. Dann waren es die Boat-People – jetzt sind es die Flüchtlinge an der Grenze.

Ich wünsche mir ein Europa, dass eine Verantwortung für die Menschheit wahrnimmt, das tätig wird, dass erkennt, dass es nicht um „Wellen“ geht sondern um einzelne Menschen. Die alle das gleiche Lebensrecht haben wie wir, denen man es aber nicht mehr zugesteht…