Reden und verstehen sind zwei verschiedene Paar Schuhe…

„Sucht neue Worte das Wort zu verkünden, neue Gedanken, es auszudenken“ – dieser Vers aus einem Kirchenlied geht mir seit heute morgen nicht mehr aus dem Kopf. Wir sagen immer: wir müssen reden, reden, reden – und eine Erfahrung der letzten Woche zeigt mir: wenn Menschen arglos Falschmeldungen weitererzählen kann reden durchaus helfen, nämlich dann, wenn man die Sachlage aufklären kann und die Menschen bereit sind, zuzuhören und nachzudenken.
Oft aber habe ich das Gefühl, gegen Mauern anzureden und anzuschreiben.
Vielleicht ist genau das der Punkt: wir benutzen die falschen Worte. Wir benutzen unsere Worte, und selbst wenn wir noch so empathisch sind, bleiben das unsere Worte. Und vielleicht fängt es bei den Gedanken schon an: sie laufen auch bei uns in bestimmten Bahnen, bestimmt durch Lebenserfahrung und Input, und ja, durch die Filterblase, in der wir uns sowohl virtuell als auch im realen Leben in der Regel befinden – zumindest außerhalb der Familie umgibt man sich ja nach Möglichkeit eher mit Gleichgesinnten, insbesondere in der Freizeit.
Wenn ich möchte, dass mein Gegenüber mich versteht, muss ich die Wege seiner Gedanken nachvollziehen können und seine Sprache kennen. Wenn die immergleichen Gedanken nicht zum Ziel führen, nun, dann muss man andere denken. Und wenn die immergleichen Worte nicht mehr ausreichen – vielleicht gibt es ja andere?
Menschen überzeugen kann man nicht durch gebetsmühlenartige Wiederholungen, die ja schon mühsam genug sind. Menschen überzeugen kann man nur, wenn man immer neu denkt, wenn man in Worten spricht, die der oder die andere versteht.
Ich werde versuchen, mir das in Zukunft zu Herzen zu nehmen – im virtuellen und vor allem im realen Leben.

9.November: Ein deutscher Schicksalstag

9. November. So etwas wie ein deutscher Schicksalstag. In einem Gespräch letzte Woche sagte ich, dass ich besser fände, wenn „unser“ Nationalfeiertag am 9. November wäre. Meine Gesprächspartnerin wies mich dann darauf hin, dass da nicht nur schönes geschehen wäre in der deutschen Geschichte. Ja, genau darum geht es mir ja – ein Nationalfeiertag sollte sich nicht die Rosinen aus dem Kuchen picken, denn dann verliert man die Gesamtsicht, und die zu behalten scheint mir in der heutigen Zeit immer wichtiger zu werden.

Am 9.11.1848 wurde Robert Blum standrechtlich erschossen – das war der Anfang vom Ende der Revolution 1848/49.

Der 9.11.1918 war da schon, was die Revolution angeht, positiver: an diesem Tag, dem Beginn der Novemberrevolution, wurde die erste deutsche Republik ausgerufen. Es folgte eine Reihe von teilweise bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern einer einer pluralistisch-parlamentarischen Demokratie und denen einer sozialistischen Räterepublik, wobei letztere unterliegen. Im August 1919 wird die Weimarer Republik konstitutiert – die erste Republik auf deutschem Boden, die zwar eine relativ kurze Halbwertzeit hatte, aber doch grundlegend war auch für unsere heutige Demokratie.

Leider war sie auch der Nährboden für die Nationalsozialisten: am 9. November 1925, genau 5 Jahre nach Ausrufung der Republik, unternimmt Hitler einen Putschversuch gegen die demokratische Reichsregierung. Der Putschversuch scheitert, 16 Menschen sterben, und Hitler wird zu 5 Jahren Festungshaft verurteilt. Im Prozess inszeniert er sich als Führer der „völkischen Bewegung“ und kommt nach 9 Monaten wegen guter Führung wieder frei. 10 Jahre später wird er diesen Tag zum Gedenk- und Feiertag, an dem der „Blutzeugen der Bewegung“ gedacht wird – der einzige Grund, der mir einfällt, weshalb dieser Tag als Nationalfeiertag schwierig wäre – aber nicht unmöglich.

Dann natürlich der 9. November 1938 – die Progromnacht. Synagogen brennen, Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbürger werden verwüstet, hunderte von Juden in diesen und den folgenden Tagen ermordert. SA- und SS-Männer auf dem Land werden, so erzählten mir meine Eltern, gerne lieber in den Nachbarorten tätig als vor der eigenen Haustür…

Ebenfalls an einem 9. November, 1967, enthüllen Studenten bei der Amtseinführung des Rektors der Uni Hamburg ein Transparent mit dem Spruch „unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren“ – der zu einem Symbol der Studentenbewegung werden wird, der sogenannten 68er…

Und am 9. November 1969 gab es einen linksradikalen Anschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus in Berlin – auch dieser Termin war sicher nicht zufällig gewählt.

Der 9. November 1989 – nun, da saß ich hochschwanger vor dem Fernseher und verfolgte das Geschehen in Berlin. Die Tränen liefen mir übers Gesicht und ich glaubte, das wäre der erste Schritt zum Weltfrieden…

Heute, 30 Jahre später, habe ich Angst. Angst, dass sich Geschichte wiederholt. Wenn CDU-Funktionäre laut darüber nachdenken, dass man mit den Linken nicht sprechen dürfe, mit der AfD aber sprechen müsste, weil man sonst eine große Gruppe Wähler ausschließe (nicht beachtend, dass die Linken mehrere Prozent mehr Wähler auf sich vereinigen konnten), dann liegt das nahe.
Wenn Politiker in Europa in Kauf nehmen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, wenn sie von Seenotrettern verlangen, internationales Recht zu missachten und Menschen zurück in Not und Elend zu befördern, dann gibt es da einen nationalistischen Geist, der sich auch in Sprüchen wie „Amerika first“ oder „erst mal unseren Obdachlosen helfen und das christliche Abendland vor Überfremdung abschotten“ gipfelt, einen Ungeist, der mir Angst macht.

Genau deshalb wäre für mich der 9.November der richtige Nationalfeiertag: ein Tag, an dem wir auch all der Dinge gedenken, die eben gerade nicht gut waren – all der 9.November in Deutschland, die in irgendeiner Form bis heute fortwirken.