Am Freitag hatte ich eine Beerdigung – auf dem
frühlingshaften Krefelder Friedhof. Und da dachte ich glücklich darüber nach,
wie schön es doch ist, dass auf jede Nacht ein Morgen folgt und auf jeden
Winter ein Neubeginn im Frühjahr – es passiert einfach, ohne dass wir was dazu
tun.
Dann fuhr ich durch den Forstwald, das Gewand zurückbringen, und sah diese
Bäume, den grünen und den, der die Trockenheit des letzten Sommers nicht
überlebt hat – und plötzlich war die Selbstverständlichkeit gar nicht mehr so
selbstverständlich. An dem Baum, der wohl fallen wird im Laufe des Jahres, ist
gut zu erkennen, dass wir nicht als selbstverständlich ansehen können, dass es
immer weitergeht:
Nicht immer folgt ein Morgen auf die Nacht, nicht immer
folgt dem Dunkel das Licht, nicht immer folgt dem Winter auch ein Frühling –
nicht immer und nicht überall.
Im Mittelmeer sterben Menschen, während das christliche
Abendland noch darüber philosophiert, ob Seenotrettung Schlepperei ist. Ganze
Weltgegenden trocknen aus und treiben die Menschen, die die Katastrophen
überleben, in Elend und Flucht, während das christliche Abendland noch darüber
nachdenkt, ob sie uns unseren Luxus und unsere Werte klauen. Und das Internet überschwemmt
von Ressentiments gegenüber Fremden, bestenfalls, schlimmstenfalls von Hass und
Hetze, und auch Politiker machen da mal mehr, mal weniger offen, mit…
Ich bin – nicht immer zum Verständnis meiner Umwelt –
kommentierender Weise im Internet unterwegs. Ich versuche – gemeinsam mit so
vielen anderen Menschen – den Hass und die Hetze aus den Kommentarspalten
herauszuholen. Und ich finde: es lohnt sich, genauso wie es sich lohnt, für
Klimaschutz aktiv zu werden. Jeder Baum, der nicht vertrocknet, jeder Mensch,
der leben darf: das sind die Hoffnungen auf den Neuanfang: jeden Tag und immer
wieder. Deshalb lohnt es sich, immer und immer wieder Hass und Hetze
entgegenzutreten, deshalb lohnt es sich, das eigene Handeln immer wieder auf seine
Auswirkungen auf die Umwelt zu überprüfen. Deshalb stehe ich – und viele andere
– immer wieder auf und mache weiter.
Mein Gott,
warum hast Du mich verlassen – das fragt Jesus vom Kreuz herab. Auch sonst
scheint er ziemlich verlassen: außer seiner Mutter Maria, seinem
Lieblingsjünger Johannes und Maria Magdalena ist keiner mehr da – alle haben
sich verdrückt…
Und ja, diese Frage stellen wir
durchaus auch. Wenn ein lieber Mensch viel zu früh verstorben ist. Wenn unser
Leben durchkreuzt wird von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Lieblosigkeit. Wenn uns
unser Kreuz niederzudrücken scheint und wir keinen Ausweg finden.
Wo war Gott denn, als die Nazis ihre Greueltaten an den Juden und anderen
unerwünschten Menschen ausübten. Wo ist Gott denn, wenn Menschen im Krieg
leiden, wenn sie auf der Flucht sterben, wenn sie dort, wo sie Leben erhofften,
nur Elend und Not finden. Wo ist Gott, wenn die Klimaerwärmung dazu führt, dass
ganze Landstriche veröden. Wenn Naturkatastrophen Menschenleben kosten. Wo ist
er, wenn Priester Kinder und Ordensfrauen mißbrauchen?
Wo ist jetzt Dein Gott – diese Frage bekomme ich manchmal gestellt: wenn
Menschen im Mittelmeer ertrinken, weil sich die Hoffnung auf ein Leben in
Sicherheit und Frieden als trügerisch erwies.
Wo ist jetzt Dein Gott – das werde ich manchmal gefragt, wenn Menschen viel zu
früh versterben.
Wo ist jetzt Dein Gott fragte meine Freundin, die Karneval die Diagnose
Bauchspeicheldrüsenkrebs bekam und Karfreitag dann verstarb: wo ist jetzt Dein
Gott?
Gott, wo bist Du – diese Frage stelle auch ich mir immer wieder.
Ich glaube, Gott ist überall da, wo Leiden herrscht.
Er ist da, wo Verzweiflung alles leben zu ersticken droht. Er ist aber auch da,
wo er den Menschen findet, der es wagt, genau hinzuschauen, sich nicht zu
verstecken, sondern das Leid und Elend zur Kenntnis nimmt. Er ist da, wenn wir
aus der Bequemlichkeit auszubrechen und uns auf den Weg machen, auf den Weg zum
Nächsten, der Hilfe braucht, auf den Weg, unsere Bequemlichkeit zurückzulassen
zum Wohle seiner Mitmenschen, auf dem Weg, Entscheidungen zu treffen statt in
der Hoffnungslosigkeit zu verharren, auf dem Weg ins neue Leben. Gott hat keine
anderen Hände als die unsrigen – die sollen wir denen reichen, die Trost
brauchen und Hilfe, die ein offenes Ohr benötigen, die unser Einschreiten
retten könnte. Achten wir darauf, wo Gott uns ruft – wo wir ihn hören – da
werden wir Ihn finden. Dann stehen wir mit Maria, Johannes und Maria Magdalena unter
dem Kreuz, dann stehen wir zu Ihm. Dann ist das Kreuz nicht das Ende…
Mein Fastenkalender in diesem Jahr nennt sich „7 Wochen ohne
Lügen“ und geht dieser Frage nach.
Was ist denn Lüge? Das ist relativ einfach, finde ich: Lüge ist das, was ich wider besseren Wissens verbreite. In der Regel, um irgendetwas durchzusetzen oder andere bloßzustellen oder sonst irgendwie entweder zu schaden oder einen Vorteil zu erlangen. Es gibt dann noch die Lüge nach dem Motto: „tell me sweet little lies“ – da lässt sich drüber streiten. Und dann gibt es das Schweigen, das Verschweigen von Wahrheiten. Da wird es dann schwierig…
Aber was ist Wahrheit überhaupt?
Was ist Wahrheit – die Frage stellt sich, als Jesus vor
Pontius Pilatus steht. Was ist Wahrheit – die Frage stellt man sich angesichts
der Flut von Falschmeldungen jeden Tag, wenn man durchs Internet surft. Was ist
Wahrheit?
Gibt es das überhaupt? Wahrheit?
Ich habe eine Freundin, die ich seit dem 5.Schuljahr kenne.
Wir sehen uns häufig, sind uns eng verbunden. Aber über unsere Schulzeit
sprechen wir nur noch selten. Nicht nur, weil es genügend andere Themen gibt,
sondern weil wir, wenn wir unsere Wahrheiten aus dieser Zeit vergleichen,
eigentlich gar nicht auf derselben Schule gewesen sein können.
Nun kann man sagen: ok, Erinnerungen täuschen, und je weiter
das Ereignis weg liegt. Nehmen wir also etwas anders: ein Verkehrsunfall. Zwei
Autos treffen sich an der Mittellinie. Jeder der beiden behauptet, er wäre auf seiner
Fahrbahnseite geblieben und der andere lüge. Was ist Wahrheit? Nun, für sich
genommen kann es durchaus sein, dass beide fest davon überzeugt sind, die
Wahrheit zu sagen. Ihre Wahrheit – objektiv ließ sich damals nichts
feststellen. Das sind so Situationen, die jeder kennt: die (echte) Wahrheit liegt
dann möglicherweise in der Mitte. Oder auch nicht. Wer weiß das schon. Übrigens
ein Grund für mich, immer zu versuchen, alle Seiten zu hören, soweit das
möglich ist.
Oder nehmen wir die Forschung: immer wieder müssen die Wissenschaftler
feststellen, dass das, was sie bisher als Wahrheit kannten, durch neue Erkenntnisse
relativiert oder gar grundlegend geändert wird (übrigens sehr gut dargestellt von
Archäologen im New Yorker National Museum of History)
Also: gibt es das, Wahrheit?
Nun, es gibt durchaus Fakten. Nüchterne Fakten, die man so
stehen lassen kann. Oder aber auch hinterfragen, interpretieren, widerlegen…
Und es gibt die subjektive Wahrheit, die offensichtlich die
meine ist, vielleicht auch tatsächlich nur meine: für mich ist mein Mann der
schönste Mann der Welt.
Es gibt das offensichtliche, was nur leugnen kann, der es
leugnen will.
Es gibt Begebenheiten: wenn 100 Leute etwas gesehen haben
und übereinstimmend erzählen, dann kann man es nur noch sehr schwer widerlegen
oder leugnen.
Ich bin fest davon überzeugt: „die Wahrheit“ gibt es nicht. Es
gibt nur das, was man für sich als wahr erkennt – wenn man offenen Herzen und
bereitwillig danach sucht, dann ist es zumindest eine Wahrheit.
Aber auch da gibt es Grauzonen: es gibt Wahrheiten, die man
sich nicht eingestehen will. Es gibt Wahrheiten, die man nicht hören will. Als
Präventionsreferentin für sexuellen Mißbrauch in der katholischen Kirche höre
ich immer wieder: bei uns gibt es so was nicht, bei uns tut das keiner. Das
kann ja durchaus stimmen. Aber es kann auch sein (und es ist oft so), dass die
Wahrheit keiner sehen und hören will. Dass nicht sein kann, was nicht sein
darf. Dass man gar nicht erst hinschaut: was ich nicht sehe oder höre, das
existiert auch nicht, so wie das Kind, dass die Hände auf die Augen legt und meint,
jetzt wäre es verschwunden…
Also: schwieriges Thema, das mit der Wahrheit. Da fragt man
sich doch: warum überhaupt soll man dann bei der Wahrheit bleiben? Wenn sie
doch so vielschichtig ist, so schwer fassbar – warum überhaupt drüber
nachdenken in einer Zeit, in der sie sowieso keinen hohen Stellenwert mehr hat,
dafür aber eine hohe Halbwertzeit?
Ich glaube, es geht gar nicht um Wahrheit. Wir nutzen die
falschen Vokabeln. Es geht um Wahrhaftigkeit: dass ich Dinge sorgfältig prüfe
und nur da als Wahrheit verkünde, wo ich davon überzeugt bin. Und dass ich
danach lebe, was ich als Wahrheit erkannt habe. Dass ich weder mich, noch
andere belüge, weder wissentlich noch ungeprüft unwissentlich. Und dass ich mir
eingestehen kann, die Wahrheit nicht zu kennen. Oder nur einen Teil der
Wahrheit zu erkennen.