Was ist Wahrheit

Mein Fastenkalender in diesem Jahr nennt sich „7 Wochen ohne Lügen“ und geht dieser Frage nach.

Was ist denn Lüge? Das ist relativ einfach, finde ich: Lüge ist das, was ich wider besseren Wissens verbreite. In der Regel, um irgendetwas durchzusetzen oder andere bloßzustellen oder sonst irgendwie entweder zu schaden oder einen Vorteil zu erlangen. Es gibt dann noch die Lüge nach dem Motto: „tell me sweet little lies“ – da lässt sich drüber streiten. Und dann gibt es das Schweigen, das Verschweigen von Wahrheiten. Da wird es dann schwierig…

Aber was ist Wahrheit überhaupt?

Was ist Wahrheit – die Frage stellt sich, als Jesus vor Pontius Pilatus steht. Was ist Wahrheit – die Frage stellt man sich angesichts der Flut von Falschmeldungen jeden Tag, wenn man durchs Internet surft. Was ist Wahrheit?

Gibt es das überhaupt? Wahrheit?

Ich habe eine Freundin, die ich seit dem 5.Schuljahr kenne. Wir sehen uns häufig, sind uns eng verbunden. Aber über unsere Schulzeit sprechen wir nur noch selten. Nicht nur, weil es genügend andere Themen gibt, sondern weil wir, wenn wir unsere Wahrheiten aus dieser Zeit vergleichen, eigentlich gar nicht auf derselben Schule gewesen sein können.

Nun kann man sagen: ok, Erinnerungen täuschen, und je weiter das Ereignis weg liegt. Nehmen wir also etwas anders: ein Verkehrsunfall. Zwei Autos treffen sich an der Mittellinie. Jeder der beiden behauptet, er wäre auf seiner Fahrbahnseite geblieben und der andere lüge. Was ist Wahrheit? Nun, für sich genommen kann es durchaus sein, dass beide fest davon überzeugt sind, die Wahrheit zu sagen. Ihre Wahrheit – objektiv ließ sich damals nichts feststellen. Das sind so Situationen, die jeder kennt: die (echte) Wahrheit liegt dann möglicherweise in der Mitte. Oder auch nicht. Wer weiß das schon. Übrigens ein Grund für mich, immer zu versuchen, alle Seiten zu hören, soweit das möglich ist.

Oder nehmen wir die Forschung: immer wieder müssen die Wissenschaftler feststellen, dass das, was sie bisher als Wahrheit kannten, durch neue Erkenntnisse relativiert oder gar grundlegend geändert wird (übrigens sehr gut dargestellt von Archäologen im New Yorker National Museum of History)

Also: gibt es das, Wahrheit?

Nun, es gibt durchaus Fakten. Nüchterne Fakten, die man so stehen lassen kann. Oder aber auch hinterfragen, interpretieren, widerlegen…

Und es gibt die subjektive Wahrheit, die offensichtlich die meine ist, vielleicht auch tatsächlich nur meine: für mich ist mein Mann der schönste Mann der Welt.

Es gibt das offensichtliche, was nur leugnen kann, der es leugnen will.

Es gibt Begebenheiten: wenn 100 Leute etwas gesehen haben und übereinstimmend erzählen, dann kann man es nur noch sehr schwer widerlegen oder leugnen.

Ich bin fest davon überzeugt: „die Wahrheit“ gibt es nicht. Es gibt nur das, was man für sich als wahr erkennt – wenn man offenen Herzen und bereitwillig danach sucht, dann ist es zumindest eine Wahrheit.

Aber auch da gibt es Grauzonen: es gibt Wahrheiten, die man sich nicht eingestehen will. Es gibt Wahrheiten, die man nicht hören will. Als Präventionsreferentin für sexuellen Mißbrauch in der katholischen Kirche höre ich immer wieder: bei uns gibt es so was nicht, bei uns tut das keiner. Das kann ja durchaus stimmen. Aber es kann auch sein (und es ist oft so), dass die Wahrheit keiner sehen und hören will. Dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Dass man gar nicht erst hinschaut: was ich nicht sehe oder höre, das existiert auch nicht, so wie das Kind, dass die Hände auf die Augen legt und meint, jetzt wäre es verschwunden…

Also: schwieriges Thema, das mit der Wahrheit. Da fragt man sich doch: warum überhaupt soll man dann bei der Wahrheit bleiben? Wenn sie doch so vielschichtig ist, so schwer fassbar – warum überhaupt drüber nachdenken in einer Zeit, in der sie sowieso keinen hohen Stellenwert mehr hat, dafür aber eine hohe Halbwertzeit?

Ich glaube, es geht gar nicht um Wahrheit. Wir nutzen die falschen Vokabeln. Es geht um Wahrhaftigkeit: dass ich Dinge sorgfältig prüfe und nur da als Wahrheit verkünde, wo ich davon überzeugt bin. Und dass ich danach lebe, was ich als Wahrheit erkannt habe. Dass ich weder mich, noch andere belüge, weder wissentlich noch ungeprüft unwissentlich. Und dass ich mir eingestehen kann, die Wahrheit nicht zu kennen. Oder nur einen Teil der Wahrheit zu erkennen.

Dann, nur dann kann ich wahrhaftig leben.

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