Das Kreuz mit der Würde des Menschen

Manchmal habe ich das Gefühl, in Deutschland geht die Sonne unter, aber ohne die Verheißung auf ein neues Morgen.
Ich möchte hier einmal aus der Sicht einer Volljuristin, also aus meiner Sicht, klarstellen, worum es bei dem Streit um die Menschenwürde des Art. 1 GG ab Nidation (das heißt, ab Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter) geht.

Die Menschenwürde nach Art. 1 Grundgesetz ist nicht abwägbar und nicht verhandelbar. Würde sie in Deutschland wirklich ab Nidation gelten, so wäre jegliche Abtreibung nicht nur verboten, sondern müsste bestraft werden, auch dann, wenn die Alternative ist, dass die Mutter stirbt. Weil man eben die Würde der Mutter nicht gegen die Würde des Embryos abwägen dürfte. Dann gäbe es auch keine Straflosigkeit in den ersten 12 Wochen nach Beratung oder eben wenn Gefahr für Leib und Leben besteht, und auch ein durch eine Vergewaltigung entstandenes Leben müsste um jeden Preis ausgetragen werden.
Da aber bei uns eine Abtreibung unter bestimmten Umständen straflos bleibt, und das BVerfG dies auch als grundgesetzkonform beurteilt hat, liegt hier also entweder eine dem Grundgesetz widersprechende Beurteilung vor, oder aber der Embryo kann nicht voller Grundrechtsträger sein. Letzteres scheint mir zumindest beim größeren Teil auch der konservativen Verfassungsjuristen auch einhellige Meinung zu sein.
Und genau damit hat Frau Prof. Dr. Brosius-Gersdorf argumentiert und die verschiedenen Möglichkeiten der juristischen Interpretation aufgezeigt. Sie hat das bei Markus Lanz auch noch einmal für Nichtjuristen erklärt und dann hinzugeführt: das Lebensrecht eines Menschen aus Art 2 GG gilt ab Nidation. Dies gilt es mit den Grundrechten der Mutter abzuwägen.

Allerdings geht ihre Abwägung bis zur 12. Woche eher in Richtung der Mutter, danach in Richtung des Kindes: und das, aber genau nur das, ist ihre persönliche Meinung.

Worum geht es denn konkret? Es geht nicht darum, die Beratung abzuschaffen, es geht auch nicht darum, über die 12 Woche hinaus noch abzutreiben. Es geht lediglich darum, die sogenannte „straflos bleibende Straftat Abtreibung“ abzuschaffen. Damit die Frau keine Straftat begeht, wenn sie abtreiben lässt (und auch das ärztliche Personal, das die Abtreibung vornimmt).


Die CDU ist empört, dass sie sich bei Lanz geäußert hat, sie hätte schweigen sollen, so meint man. Ah ja. Ich treibe erst eine Hexe durchs Dorf, öffentlich, und dann, wenn sie sich erklärt (was jedem Angelklagten sogar unter der Inquisition erlaubt war), dann untersage ich es? Was ist das für ein Verständnis von der Würde des Menschen, die hier angeblich gestützt werden soll? Hat die Professorin keine?

Und was ist mit der Würde der Menschen, die im Mittelmeer ersaufen, die in Libyens Lagern gefoltert, missbraucht und getötet werden, die sterben oder leiden, weil wir glauben, sie seien alle kriminell? Die haben offensichtlich auch keine.
Was ist mit der Würde des ungewollten Kindes, das bei einer Mutter aufwächst, die es nicht wollte, die vielleicht mit dem Leben nicht fertig wird, die es nicht fördern kann? Offensichtlich existiert die Würde hier auch nicht.
Was ist mit der Würde der Migranten, die rassistisch beleidigt werden auf offener Straße? Auch da scheint man nicht so pingelig zu sein.

Sorry, ich liebe Kinder, habe selbst 4 geboren und drei groß gezogen: aber diese Diskussion geht mir echt zu weit.


Und noch was fällt mir auf: es geht in der ganzen Diskussion immer nur um die schwangere Frau (hat die eigentlich eigene Würde?) und nie um die Väter – die sind fein raus.

Gedanken in der 3 Woche. Teil 3: Man sollte ein Problem immer von allen Seiten anschauen

Wir sind, es lässt sich nicht leugnen, in einer Krise. Alles dreht sich um Corona, wir bleiben zu Hause, und, um das vorab klarzustellen: ich finde das auch durchaus richtig.

Dennoch kommen mir immer wieder Bedenken: erstens bin ich der Ansicht, dass eine gesetzliche Grundlage fehlt, solch umfassende Grundrechtseinschränkungen zu erlassen: Das hierzu gerne zitierte Infektionsschutzgesetz erlaubt Grundrechtseinschränkung für Erkrankte bezüglich Meldung, Quarantäne, Berufsausübung. Die Einschränkungen, die hier alle Bewohner der Bundesrepublik betreffen und teilweise bis hin zum „Berufsverbot“ gehen, sind meines Erachtens davon nicht gedeckt. Schon gar nicht, weil es kein definiertes Ende dieser Maßnahmen gibt. Und das macht mir Sorge: ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung da rechtsstaatlich sauberer gearbeitet hätte, denn was einmal funktioniert hat, kann man wieder versuchen, auch wenn die Notlage vielleicht weniger drastisch ist.

Das Demonstrationen auch dann nicht zugelassen werden, wenn man sich an die entsprechend für das Bundesland geltenden Regeln hält, wie z.B. die geplanten Demos der Seebrücke zur Evakuierung der Flüchtlingslager am letzten Sonntag, finde ich erst recht erschreckend: ein wichtiger Baustein der Demokratie, eine wichtige Äußerungsmöglichkeit der Bürger wird außer Kraft gesetzt, obwohl die Einschränkung von Grundrechten immer einhergehen muss mit der Prüfung, ob es mildere Mittel gibt. Und die hätte es gegeben: nämlich die Auflage, sich an die vor Ort geltenden Einschränkungen zu halten (was die Demonstranten auch gemacht haben). Das muss doch möglich sein in einem Land, das so viel Wert auf seine gelebte Demokratie legt.

Was mir aber vor allem Angst macht, ist nicht die Tatsache, dass andere Menschen andere Rechtsauffassungen vertreten als ich. Was mir Angst macht, ist, dass Menschen, die laut darüber nachdenken, verprügelt werden (im Zeitalter von social distancing nur mit Worten, aber dennoch): Es scheint, man darf Zweifel nicht mehr äußern in dieser Welt.

Das gilt auch, wenn man verlangt, dass abgewogen wird, welche Folgen die Maßnahmen für andere haben. Ich will da gar nicht die Wirtschaft zitieren: Ärzte beklagen, dass Menschen nicht zum Arzt gehen, wenn sie an anderen Krankheiten und Symptomen leiden, aus Angst, sich mit Corona anzustecken. Die zu lebensnotwendigen Untersuchungen nicht kommen, weil Arztpraxen und Krankenhäuser als Seuchenherd gelten – oder weil sie die Ärzte nicht von „wichtigeren“ Dingen, also von Corona, abhalten wollen. Polizisten berichten von sprunghaft angestiegener häuslicher Gewalt – und sie erfahren, gerade jetzt, ja nur die Spitze des Eisberges Davon Betroffene und auch vom Missbrauch betroffene haben keine Möglichkeit mehr, ihren Peinigern zu entfliehen. Menschen mit Depressionen werden kränker, Menschen, die ihre Arbeit verlieren, oder die keine realen Kontakte mehr haben, erkranken psychisch und physisch. Kinder und Jugendliche, die dringend auf Begleitung z.B. der Familienfürsorge angewiesen sind, fallen zurück in alte Muster – und werden möglicherweise den Weg ins geordnete Leben nicht packen. Selbstmorde nehmen zu. Die Liste könnte ich jetzt endlos verlängern – wenn man darüber redet, wird man behandelt, als wolle man, dass Menschen an Corona sterben – und es wird einem gesagt, diese Kollateralschäden müsse man jetzt halt in Kauf nehmen.

Politikern und Fachleuten, die anfangen, darüber nachzudenken, wie es weitergehen kann, versucht man einen Maulkorb umzuhängen: es sei noch zu früh, darüber zu sprechen. Ich finde: nein, man muss drüber reden, man muss die Maßnahmen immer wieder überprüfen, selbst dann, wenn man meint, rechtlich wäre alles sauber. Weil diese Maßnahmen nur die allerletzte Möglichkeit sein können – man muss immer wieder schauen, ob mildere Mittel nicht auch zum Ziel führen und ob der Schaden immer noch kleiner ist als der Nutzen.

Nochmal: ich will nicht entscheiden müssen, wann wie welche Maßnahmen aufgehoben werden können oder müssen. Ich kann über die rechtlichen Grundlagen nachdenken, alles andere steht mir nicht zu. Aber ich möchte, dass das darüber Nachdenken nicht verpönt wird. Wir leben immer noch in einer Demokratie. Da muss das einfach möglich sein.