Erinnerungskultur in Deutschland

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz werden die Stimmen lauter, die meinen, es wäre jetzt mal gut mit der Erinnerung. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz werden Stimmen lauter, die sich rassistisch und antisemitisch äußern – und darauf verweisen, man könne ja die Öfen wieder entzünden. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sagen die einen, man müsse auch mal vergessen dürfen – die anderen lachen über den Holocaust, zerstören jüdische Friedhöfe, planen Anschläge auf Synagogen und führen sie auch aus. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist nicht alles längst vorbei, im Gegenteil, es kriecht aus allen Löchern. Noch gibt es viele Stimmen, die meinen, man könne das am besten ignorieren und totschweigen – nun, das hat man in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts auch versucht, hier bei uns in Deutschland. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz glauben „christliche“ Politiker, man könne mit Faschisten zusammenarbeiten, sie in die Politik einbinden, dann wäre als nur halb so schlimm. Auch das nichts neues in Deutschland, leider.

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wehren sich viele gegen den angeblichen „Schuldkomplex der Deutschen“, glauben, der Holocaust und die Grauen der Nazizeit habe mit ihnen und ihrer Biographie nichts zu tun. Nicht alle, die so denken, sind Antisemiten, Rassisten und Faschisten. Aber alle, die so denken, vergessen folgendes:
Wir werden nicht im luftleeren Raum geboren. Wir haben Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, und es ist längst erwiesen, dass Familiengeheimnisse und Traumata auch dann an die Nachkommen weitergegeben werden, wenn nie darüber gesprochen wurde. Das zeigt: wer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern hat(te), die in der Nazizeit in Deutschland und allen anderen betroffenen Ländern gelebt haben, dessen Vorfahren waren irgendwie in den Holocaust verwickelt: im schlimmsten Fall als Täter, im besten Fall im Widerstand, wahrscheinlich aber als Mitläufer, Ignoranten oder die, die angeblich nichts gewusst haben, als Opfer, Nutznießer oder auch Kollateralschäden. Wir kommen in unserer Biographie als Deutsche, deren Vorfahren auch aus Deutschland und den entsprechenden „deutschen“ Gebieten kommen, an der Nazizeit mit all dem Üblen nicht vorbei. Sind wir deswegen schuldig? Sicher nicht. Das sagt auch keiner. Aber wir könnten schuldig werden, wenn wir zulassen, dass die Erinnerung verblasst und die entsprechende Aufmerksamkeit nachlässt.

Auschwitz ist nicht der Holocaust. Auschwitz war mit seinen Außenlagern Arbeits-, Folter- und Vernichtungslager. In Auschwitz starben Menschen an Krankheiten, Entkräftung, Menschenversuchen oder als Strafe oder Exempel. Die, nicht arbeiten konnten, wurden getötet, die Arbeitsfähigen zunächst noch zur Zwangsarbeit gezerrt. Das Grauen soll dort greifbarer sein als überall anders, so sagt man. Ich war „nur“ in Dachau, schon da war es kaum auszuhalten. Es gab Arbeitslager, Todeslager, Folterlager und alles dazwischen. Wenn wir unsere Erinnerungskultur allerdings auf die Lager und die dort Umgebrachten fokussieren, vergessen wir all die anderen: All es die, die auf offener Straße erschossen oder totgeprügelt wurden, die in der Heimat, in den Gefängnissen der Gestapo, im sicher geglaubten Versteck, auf der Flucht, wo auch immer umgebracht wurden – schon vor der sogenannten Endlösung. Fast die Hälfte aller deutschen Juden, so schätzt man starb entweder so, oder an Hunger und Entkräftung.
Auschwitz ist auch nicht nur Symbol für den Völkermord der Juden. Auschwitz ist viel mehr: es gab die Ausrottung der Juden, aber es gab auch all die anderen sogenannten Volksschädlinge: Homosexuelle, Sinti und Roma, Kommunisten und Sozialdemokraten, auch katholische und evangelische Priester und jede Menge Menschen, die als Widerstandskämpfer in den Kellern der Gestapo oder aber auch in den Konzentrationslagern gequält, gefoltert und umgebracht wurden. Die Parole war: alles, was anders ist, muss weg. Und keiner kann sagen, er hätte nichts gewusst. Der Nachbar verschwand, die Klassenkameradin, das behinderte Kind – es gab niemanden, der nicht hätte wissen können, was passiert.

Heute haben wir Internet. Was damals vielleicht nur hinter vorgehaltener Hand in der Nachbarschaft erzählt wurde, heute erfahren wir alles. Was bis vor einigen Jahren unsagbar war, heute wird es gesagt: von Nachbarn, Arbeitskollegen, Menschen auf der Straße, am Stammtisch, vielleicht sogar im eigenen Freundeskreis oder der Familie. Und hier setzt unsere Verantwortung ein: aufklären und widersprechen, die Menschenwürde und das Lebensrecht aller Menschen verteidigen. Unser Engagement kann vielfältig sein, im kleinen Kreis oder in der großen Öffentlichkeit, Teilnahme an Gedenkfeiern und Demonstrationen, das Kreuz an der richtigen Stelle: wir alle haben Möglichkeiten. Und das ist genau die Folge, die sich für uns aus dem Erinnern ergibt: nicht weghören, nicht wegsehen, nicht schweigen, sondern auftreten. Vielleicht kriegen wir es dann noch in den Griff. Ich bin ja Christin: ich hoffe, es gelingt. Denn wenn nicht, dann Gnade uns Gott.

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