80 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz kann man sehen, wie Geschichte sich wiederholt. Wir sind jetzt in der Situation derer, die damals „nichts“ gemacht haben und sind fassungslos, dass die Rechten lauter werden, dass es normal ist, Migranten als Übel anzusehen, sie zu beschimpfen, bespucken, verprügeln. Wiederholt sich Geschichte? Was früher „die Juden“ waren sind heute „die Migranten“ oder eben auch wieder „die Juden“. Was früher Deportation hieß, heißt heute „Remigration“ – wobei es am Anfang ja durchaus gewünscht war, dass Juden remigrierten, das mit der Vernichtung kam dann später. Und auch heute ziehen Menschen durch die Straßen, verprügeln Wahlkämpfer der demokratischen Parteien oder eben Menschen, die sie als Migranten ansehen. Wird definiert, wer Deutscher ist und wer nicht, egal, welche Staatsangehörigkeit jemand hat. Wiederholt sich Geschichte?
Es gibt einen großen Unterschied: wir wissen, wie es weitergeht. Erst wurde die Gefährlichkeit der NSDAP kleingeredet, glaubte man ihren Versprechungen, bemerkte man nicht, dass sie populistisch agierten und nur das sagten, was die Menschen hören wollten – ihre Ziele waren andere. Hätte man es damals wissen können? Manche sicher, manche haben es ja auch geahnt, haben das Zentrum vor der Zusammenarbeit gewarnt. Aber es kamen die gleichen Argumente wie heute: man müsse sie an dem messen, was sie liefern, wenn sie das Richtige wollten, dann müsse man doch zustimmen, es würde schon alles nicht so schlimm werden. Und wir wissen: es kam schlimmer.
Meine Mutter, inzwischen 93, sagt heute: man konnte so einiges wissen. Wenn man hinguckte. Man konnte aber auch weggucken, sich in das Lästige schicken, sich ducken, schweigen, sich einreden, dass nicht sein könne, was nicht sein darf.
Wie geht es uns heute: wir kennen die Anfänge von damals. Selbst wer, wie viele meiner Generation und älter, im Geschichtsunterricht nicht so weit gekommen sind: jeder und jede von uns hatte genügend Gelegenheit, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, selbst oder gerade, wenn die eigene Familie geschwiegen hat.
Wir sehen, wie die Argumente sich ähneln, die Forderungen sich gleichen, der Hass um sich greift: der Hass auf die, die „anders“ sind, die uns vermeintlich „umvolken“ wollen, die uns ausrotten, versklaven wollen – und selbst, wenn manches widerlegt wird, so glaubt man doch zu wissen, dass es aber so hätte sein können. Man teilt die Menschen ein in höherwertig und minderwertig, in die, die ein Lebensrecht in unserer ach so schönen Heimat haben und die, die ruhig im Mittelmeer ersaufen können, die man notfalls mit Gewalt davon abhalten muss, in unser Land zu kommen. Und wir gucken zu, viel zu viele relativieren („es wird schon nicht so schlimm werden“), gucken weg, glauben nur das, was sie glauben wollen. Ja, es ist zum Verzweifeln. Wo bleibt da die Hoffnung, wenn heute die CDU agiert wie damals das Zentrum?
Am Samstag waren wir in Köln, auf der Demo gegen rechts. Zehntausende auf den Straßen, mit fantasievollen Schildern, die sich nicht zu schade waren, stundenlang auszuharren, bis auch sie endlich den Demoweg gehen konnten, laut waren gegen Rassismus und die AfD.
Heute, beim Mittagessen, vier Frauen in meinem Alter am Nachbartisch, zwei, die relativierten und doch immer schon CDU gewählt haben und zwei, die nicht müde wurden, sachlich und fundiert darzustellen, wo sich die Geschehnisse gleichen: ein gutes Gespräch, anscheinend konnten sie ihre Freundinnen überzeugen, denn am Ende stand die Frage: wen können wir denn dann wählen?
Man hört und liest von Protesten innerhalb der CDU, von Mitgliedern, die aufbegehren dagegen, dass die Grenzen zu verrücken scheinen, die Brandmauer brüchig wird, die Grenzen des Sagbaren auch in ihrer Partei verschoben werden.
Beispiele, die zeigen, dass doch etwas anders ist als damals: wir kennen die Geschichte und haben durchaus gute Argumente. Und wir können auf die Straße gehen, wir dürfen demonstrieren, Meinungsfreiheit und Demonstrationskultur sind deutlich ausgeprägter und eingeübter. Noch braucht man – zumindest in Westdeutschland – nicht allzuviel Mut, laut zu werden. Noch können wir agieren: tun wir das. In der Hoffnung, dass dann tatsächlich nicht alles so schlimm wird, wie es könnte.