Coronablues am Rhein

Gestern stand ich am Ufer des steigenden Rheins. Und schaute so auf die gewaltigen Fluten. Und da kam mir folgender Gedanke:

Seit 30 Millionen Jahren fließt dieser Fluss Richtung Nordsee. Er hat seinen Verlauf mehrfach geändert, sein Aussehen, seine Länge, seine Wassermenge – aber er war immer da. Von den Kelten wurde er als Vater Rhein verehrt – die Bezeichnung hat sich bis heute gehalten. Der Name Rhein kommt wohl schlicht und ergreifend von fließen – und geht auf eine indogermanische Wurzel zurück, aus der sich auch das altgriechische Wort ῥέω [reo] (fließen), das lateinische Wort rivus (Fluss) und heutige Worte wie river und rio entwickelten, auch das deutsche Wort rinnen kommt wohl daher.

Der Rhein war also immer „der Fluss“. Er war ein Anlass für romantische Dichtungen und auch schon früh Touristenmagnet, zu einer Zeit, als es Touristen noch gar nicht gab.

Der Rhein war immer schon Transportstraße, er hat Menschen miteinander verbunden und auch dafür gesorgt, dass das Rheinland bunt und multikulturell wurde. Echte Rheinländer:innen haben eine buntschillernde Ahnenreihe – deshalb galt das Rheinland lange auch als sehr tolerant, Köln zumindest ist es bis heute, Krefeld nahm als religionsfreie Stadt Menschen aus aller Herren Länder auf, die wegen ihrer Religion verfolgt wurden, und die Vergangenheit war genauso bunt, wie es hoffentlich die Zukunft ist.

Der Rhein hat Menschen miteinander verbunden, aber auch voneinander getrennt: ihn zu überqueren war nicht leicht, und Brücken wurden immer mal wieder vom Hochwasser mitgerissen oder vom Feind zerstört – wie schwierig dieser Brückenbau bis heute ist, kann man an den verschiedenen Autobahnen erkennen – kaum eine Rheinbrücke, die noch in absolut Ordnung ist, jedenfalls von Koblenz aus rheinabwärts.

Der Rhein gab auch Nahrung, bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein gab es Fischfang an seinen Gestaden – und jetzt, Gott sei Dank, ist er auch wieder Lebensraum für Fische geworden.

Er kann grausam sein: wenn er sein Bett verlässt, reißt er gerne mal alles mit, was ihm im Weg steht – und er kann lieblich dahinplätschern. Vor zwei Jahren war er so niedrig wie nie, die Mahnung an uns, endlich zu erkennen, wie wir mit unserer Erde umgehen, ein Zeichen von unendlicher Trockenheit.

Aber eins blieb immer gleich: der Rhein floss und fließt dahin, mal langsam, mal wild und schnell, völlig unbeeindruckt von dem, was um ihn rum passiert. Wenn der Weg verbaut wurde wie z.B. durch die Vulkane der Eifel, dann suchte er halt einen anderen. Wenn man ihm den Platz nahm, in dem man versuchte, ihn zu kanalisieren, dann nahm er ihn sich halt.

Was das mit uns zu tun hat: vielleicht gucken wir uns etwas davon ab. Vielleicht versuchen wir, weniger auf das zu achten, was uns stört, sondern konzentrieren uns aufs Wesentliche: auf den Lebensfluss. Die Welt wandelt sich, Gutes passiert, Schlimmes passiert – und wir leben weiter, Tag für Tag, Schritt für Schritt. Versuchen wir, das mit der Ruhe dieses Flusses zu tun, nicht träge, nicht im Stillstand, fließend, aber den Blick aufs Ziel gerichtet. Und vielleicht erkennen wir dann, wo der Weg gangbar wird für uns.

Gedanken in der 3. Woche. Teil 1: Schützenswerte Alte, die sich nicht schützen lassen wollen

Erinnert Ihr Euch noch an die ersten Tage dieses Jahres? Als der größte Aufreger ein Kinderlied war, das vermeintlich eine ganze Generation 55 – 120jähriger Frauen beschimpfte, insbesondere die, die im Krieg ihre Kinder allein großgezogen und gleichzeitig ebenfalls allein Deutschland wieder aufgebaut haben? Ich will die Diskussion hier nicht wiederholen, Ihr erinnert Euch, ich bin mir sicher.

Ich will eher auf eins hinweisen: Merkt Ihr, wie jetzt nach und nach real passiert, was damals falsch verstandene Satire war? Immer mehr Menschen schimpfen auf ihre Eltern/Großeltern/Nachbarn ab einem gewissen Alter, weil sie noch selber einkaufen gehen – und dass, wo man doch nur um sie zu schützen nicht mehr arbeiten und feiern darf. Wenn man Verständnis zeigt, wird man quasi als Mörder oder zumindest als leichtsinnig dargestellt – das ist mir bereits mehrfach passiert.

Ich gebe zu: am Anfang hab ich mich auch ausgeheult bei meiner Freundin. Weil meine Mutter selbst einkaufen gehen wollte, weil mein Vater fand, es stehe ihm zu, selbst in die Apotheke zu gehen, weil, weil, weil…

Nun sind sie brav. Aber meine Einstellung hat sich deutlich geändert:

Meine Eltern sind 89 und haben 4 Kinder und 10 Enkel. Diese melden sich mehr oder weniger regelmäßig telefonisch oder schreiben Karten, und sonntags abends spielen wir gemeinsam mit der Oma Schreibspiele über Skype. Ich, die ich im Haus wohne, trinke jeden Morgen eine Tasse Kaffee mit ihnen und bete mit ihnen in Hausgottesdiensten – eine strickte Trennung wäre eh nicht möglich. Dafür macht mein Mann die Außenkontakte, und ich verlasse das Haus nur noch zum Walken/Spazieren/Radeln. Es geht einigermaßen gut, meine Eltern wissen sich allerdings im Zweifamilienhaus mit Garten auch auf der Sonnenseite der Senioren.

Sie begreifen langsam, und das führte auch zu anfänglichen Streitigkeiten, dass sie ihre Freunde, ihre Geschwister, ihre Enkel und einen Teil ihrer Kinder und Schwiegerkinder möglicherweise nie mehr real treffen werden, und dass macht mürbe. Man kann sich das schön reden, man kann resignieren. Wenn man gut aufgefangen ist, so wie bei uns, ist das vielleicht sogar noch einigermaßen ertragbar. Aber wer hat schon so einen Luxus? Viele leben in Wohnungen, teils ohne Balkon. Viele haben keine Kinder oder Enkel, die sich ständig melden. Viele sind schlicht und ergreifend alleine oder zu zweit einsam. Und was ist die Perspektive? Wann sehen Sie ihre Freunde, Nachbarn, Verwandten wieder?
Wenn ich, Mitte/Ende 50, darüber nachdenke, was ich nachher tun werde, so ist das relativ sicher, dass, sollte ich nicht an Corona sterben, es für mich ein nachher geben wird (ich kann natürlich auch morgen überfahren werden, ich weiß…). Meine Eltern erleben vielleicht das letzte Frühjahr, den letzten Sommer, quasi eingesperrt, wenn auch in den eigenen vier Wänden. Andere erleben es in der engen Wohnung. Kann man da wirklich sagen: sie kapieren es nicht, wenn sie doch noch das Haus verlassen, um wenigstens ab und zu mal einen realen Menschen zu sehen? Ich finde: Nein. Es sind erwachsene Menschen, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, und wir bevormunden sie und sperren sie ein, ohne Hoffnung auf Besserung, ohne Perspektive. Auch ich musste das erst mühsam lernen, dass wir uns als Gefängniswärter aufspielen aus ihrer Sicht…

Mein Vorschlag: bevor man sich das nächste Mal aufregt über „die Alten, die es nicht kapieren“: redet mit ihnen. Hört Euch an, was sie zu sagen haben. Und habt Verständnis. Vielleicht reicht es ja bereits, täglich zu telefonieren. Oder beim Überbringen der Einkäufe am Zaun stehen zu bleiben und in gebührender Entfernung ein wenig zu plaudern. Wichtig ist: nicht schimpfen, sondern verstehen. Dann wird das Miteinander sicher auch wieder ein besseres werden.