Jahrestag

Seit ungefähr einem Jahr stehen wir mit einer Handvoll Menschen jeden Freitag um 18 Uhr auf dem Rathausplatz unserer Kleinstadt, um eine halbe Stunde zu schweigen. Wir schweigen ganz bewusst: wir wollen nicht einstimmen in den großen Chor derer, die genau wissen, oder zumindest zu wissen glauben, was zu tun ist. Wir wollen uns nicht einreihen in den Streit um die Frage, ob alle Grünen Kriegstreiber sind oder alle Pazifisten Putinfreunde. Wir schweigen für den Frieden in der Welt – die Schweigeminute ist ein uraltes Ritual der Solidarität. Und genau darum geht es uns: wir wollen uns solidarisch zeigen mit den Opfern dieses Krieges und aller Kriege auf der Welt. Wir wollen drauf aufmerksam machen, dass er immer noch wütet, dieser Krieg. Wir wollen verhindern, dass der Krieg als Dauerzustand irgendwann „normal“ wird und in den Hintergrund gedrängt, wie so viele Kriege dieser Welt.

Wir stimmen darin überein, dass Kriege nicht sein sollen in dieser Welt und dass Wege gefunden werden müssen, diesen Krieg und alle anderen zu beenden. Wir stimmen auch darin überein, dass man an der Seite der Opfer stehen muss, die in dem Krieg in der Ukraine ganz klar auf der Seite der Ukrainer zu finden sind. Und mit diesen Überzeugungen stehen wir da, jeden Freitag, solidarisch im Schulterschluss mit den Opfern der Kriege dieser Welt.

Manchmal werden wir angesprochen und am Rande des Schweigens gibt es – in der Regel vorher oder nachher – durchaus interessante Gespräche. Wir bekommen viel Zuspruch, aber auch Ablehnung, die meist den Tenor hat: Schweigen ist einfach, bewirkt aber nichts. Wer mich kennt weiß: diese halbe Stunde ist für mich eine echte Zumutung. Manchmal hören wir auch: „niemand hat was von Eurer Solidarität“. Auch das sehe ich anders: ab und an kommen Ukrainerinnen und Ukrainer vorbei und freuen sich und finden gut, dass wir solidarisch sind und an den Krieg erinnern.

Dennoch mache ich mir natürlich meine Gedanken zu den Ereignissen. Ich, von Haus Pazifistin, die immer voller Überzeugung „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“ auf Rad und Auto kleben hatte, finde die Forderungen der Ukraine, noch mehr, auch geächtete Waffen wie z.B. Phosphorbomben zu bekommen unerträglich – aber genauso unerträglich finde ich den Ruf der selbsternannten Friedensschützer, die nach einem sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen rufen, ohne eine Idee, wie man die Ukraine dann schützen kann.

Natürlich werden Kriege nicht durch Waffen beendet, sondern durch Verhandlungen. Und verhandeln ist immer besser als schießen. Zum Verhandeln aber gehören immer zwei. Zwei, die bereit sind, zu verhandeln, also miteinander zu reden und um Lösungen zu ringen. Heute (23.2.) vor einem Jahr wurde noch verhandelt. Ich habe die Bilder noch im Kopf: lange Tische, Putin auf der einen Seite und die zu Verhandlungen angereisten Personen meterweit entfernt. Und ungeachtet all dessen, was Putin dort gesagt, gefordert, versprochen hat, ist er von diesem Tisch aufgestanden und in die Ukraine einmarschiert, in dem Glauben, es wäre in ein paar Tagen vorbei. Womit er, aber wahrscheinlich auch sonst niemand gerechnet hat: es war nicht in ein paar Tagen vorbei. Womit er auch nicht gerechnet hat: seine Soldaten wurden nicht mit offenen Armen empfangen und als Befreier gehandelt: im Gegenteil. Selbst große Teile der russischstämmigen Bevölkerung stellten sich ihnen entgegen oder flohen. Ich hatte letzten Sommer Gelegenheit, mit einigen zu sprechen: sie wollen diesen Krieg nicht, sie wollen auch nicht in Russland leben.

Und dann kam das Ringen um die Frage: darf man Waffen liefern (und gerungen wird immer noch, das ist auch gut so)? Ich denke, man darf nicht nur, man muss sogar. Man muss den Opfern helfen, sich zu wehren, sie haben ein Recht darauf. In den Diskussionen wird oft gesagt: wir müssen uns schützen, unsere Wirtschaft, unsere Unversehrtheit – müssen wir das? Geht das überhaupt? Was bleibt denn unversehrt, wenn wir zuschauen, wie ein Land brutal unterworfen wird, ohne zu helfen? Was bleibt denn unversehrt, wenn wir dem Krieg den Rücken zuwenden und zur Tagesordnung übergehen oder gar die Ukraine auf dem Silbertablet anbieten? Niemand bleibt unversehrt, im Gegenteil. Im zweiten Weltkrieg haben die Deutschen in der Ukraine schwer gewütet: erwächst nicht schon allein daraus eine Verantwortung zu helfen? Mit Hilfsgütern, mit der Aufnahme von Geflüchteten, aber eben auch mit Waffen?

Den ganzen Diskussionen um das Ende der Waffenlieferungen und der Forderung nach sofortigen Verhandlungen fehlt meiner Meinung nach das Wichtigste, nämlich die Frage nach den Folgen und nach dem Wie. Niemand ist gegen Verhandlungen. Niemand liefert leichtfertig Waffen in ein Kriegsgebiet, eigentlich ein no go, der Meinung bin ich ja auch. Aber wenn der Westen aufhört, die Ukraine zu unterstützen, dann bekommt Putin freien Raum. Dann wird er die Ukraine annektieren. Und wie er mit Menschen umgeht, die nicht seiner Meinung sind, was die Ukrainerinnen und Ukrainer dann zu erwarten haben, wenn sie sich nicht fügen, dass kann man überall beobachten, wo Putin seine Finger im Spiel hat. Opposition darf es nicht geben, Freiheitsstreben wird als staatsschädigend angesehen, wer die Wahrheit sagt, kommt in den Knast oder begeht Selbstmord: ist es dass, was wir für die Ukraine wollen, damit wir unsere Ruhe haben?

Und dann? Wie soll es dann weitergehen? Putin wird sich mit der Ukraine nicht zufriedengeben. Auch das zeigt die jüngere Vergangenheit. Er will den Einfluss Russlands zur früheren Größe erheben. Und bei ihm heißt Einfluss: alles beherrschen. Er wird also weitermachen, weil er gelernt hat, dass er, wenn er irgendwo einmarschiert, auf Dauer bekommt was er will. Denn er macht ja immer wieder deutlich, dass er nicht bereit ist, in eine Richtung zu verhandeln, bei der eine freie Ukraine überbliebe. Die Frage ist also erstens: opfern wir die Ukraine unserer Sicherheit? Und wird uns das Gelingen? Ich glaube nicht. Und deshalb darf Putin nicht gewinnen, deshalb darf man ihm die Ukraine so lange nicht überlassen, wie die Ukrainer selbst es nicht wollen.

Ich bin für Verhandlungen. Und für Frieden. Und eigentlich grundsätzlich gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Ich bin zerrissen, wie viele. Es gibt nicht nur dafür und dagegen. Die Welt ist nicht schwarz-weiß und niemand wird unbeschadet aus der Situation wieder rauskommen. Deshalb schreibe ich keine offenen Briefe an den Bundeskanzler. Weil ich nichts anzubieten habe. Außer einem „ich will das nicht“. Aber ich bin überzeugt: er will das auch nicht, und die Grünen auch nicht. Niemand will das. Es ist eine Zwickmühle. Die uns alle verändert. Aber die Hoffnung bleibt: dass es eine Veränderung zum Positiven ist, eine Veränderung in Richtung Menschlichkeit. Trotz der grausamen Opfer, die dieser Krieg fordert. Oder gerade deswegen. Ich hoffe, dass wir lernen, miteinander zu sprechen und aufeinander zu hören. Und zuzugeben, wenn wir keine Lösung haben, anstatt von anderen zu verlangen, sofort etwas zu tun, dessen Folgen wir nicht abschätzen können oder die andere ausbaden müssten.

Und deshalb werde ich auch morgen Abend wieder auf dem Rathausplatz stehen und schweigen. Solidarität zeigen und erinnern, was da geschieht, mitten in Europa. Wir dürfen nicht zur Tagesordnung übergehen.

Sind Befürworter der Waffenlieferungen Kriegstreiber? Sind Pazifisten Putinfreunde?

Das, was sich unter Corona schon andeutete, verschärft sich ungemein: alle fallen übereinander her und beschimpfen sich gegenseitig, Argumente interessieren niemanden mehr. Die einen schimpfen über die, die Waffenlieferungen befürworten und werfen ihnen Kriegstreiberei vor. Die anderen schimpfen über die, die den Pazifismus verinnerlicht haben, als feige Nichtstuer auf dem Sofa, die schon den zweiten Weltkrieg verursacht hätten und schuld wären am Leid der Juden. Jeder glaubt, er hätte den Königsweg gefunden. In Talkshows hört man nur noch militärische Begriffe, jeder ist nun Panzerexperte, wer sich nicht öffentlich dazu bekennt, wird als mildschuldig am Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer bezeichnet. Dabei ist die Wahrheit doch viel vielschichtiger – und keiner, der aus echter Überzeugung argumentiert, macht es sich „leicht“. Herr Hofreiter von den Grünen hat es in einem Statement mal so ausgedrückt: ich habe Respekt vor denen, die nach Abwägung aller Argumente Pazifisten bleiben und Waffenlieferungen ablehnen, nur ich komme zu einem anderen Schluss.
Ich oute mich jetzt: ich bin gegen Waffenlieferungen. Ich glaube immer noch, dass mehr Waffen noch mehr Leid bringen und dass auch die russischen Soldaten, die sterben, ein Lebensrecht haben. Ich glaube allerdings auch, dass die Ukraine ein Selbstverteidigungsrecht hat und natürlich verurteile ich Putin als Aggressor. Und da ist schon mein Dilemma: wer sich selbst verteidigen muss, sollte die Möglichkeiten haben: und sei es entsprechende Waffen. Aber: Ich erkenne nicht, dass Waffen Frieden bringen könnten – und ich bin der Ansicht, dass wir längst auch Sanktionen vornehmen müssten, die unserer Wirtschaft schaden: das Geld, um das sozial (bitte nicht mit der Gießkanne) abzufedern könnte man aus dem jetzt beschlossenen Sonderfonds für die Bundeswehr nehmen. (Denn: es mangelt der Bundeswehr ja gar nicht an Geld, sie kann nur nicht damit umgehen, auch da sind die Gründe vielschichtig und systemimmanent.) Wir können russischen Soldaten eine goldene Brücke bauen und Asyl anbieten, damit Desertation nicht in ukrainischen Kriegsgefangenenlagern endet. Es gäbe noch eine Menge Dinge auszuprobieren, finde ich.
Pazifismus ist schwierig in Kriegszeiten, keine Frage. Aber in Friedenszeiten könnte man deutlich mehr tun, auch für den Weltfrieden, auch gegen solche Diktatoren wie Putin: nur, dass uns immer das Wirtschaftswachstum in die Quere kommt, es darf nichts kosten. Auch nach der Annexion der Krim haben „wir“ Geschäfte mit Russland gemacht und keinerlei Anstrengungen unternommen, die Abhängigkeiten zu verringern. Wir schauen weg, wenn Nato-Partner Kriege beginnen oder, wie Erdogan zurzeit, im Nachbarland Bomben auf Kurden schmeißen. Wir haben zugesehen, wie die USA auf Grund falscher Behauptungen Kriege angefangen haben. Wir haben uns – humanitäre Beiträge mal abgesehen – weitgehend rausgehalten, immer unsere Wirtschaft im Blick: was ist an diesem Krieg so anders, dass man alle Grundsätze über den Haufen schmeißen muss, nur den Blick auf die Wirtschaft nicht?
Pazifismus bedeutet, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, überall auf der Welt. Das kostet Geld, das geht an die eigene Bequemlichkeit. Pazifismus bedeutet, den Klimawandel im Blick zu haben und aufhalten zu wollen: das geht nicht, wenn man den Status Quo erhalten will.
Geschichte wird von Siegern geschrieben. Auch unsere. Wenn man genau hinschaut, dann kann man eine Menge kritisieren an der Aussage: das militärische Einschreiten der Alliierten hat Hitlerdeutschland beendet und den Frieden gebracht. Ja, wir hier, in Westdeutschland, haben im Frieden gelebt, lange Jahre. Im Osten Europas war das deutlich anders – es sei denn man definiert Frieden lediglich als Abwesenheit von Krieg. Auch da ist die Wahrheit deutlich vielschichtiger.
Ich verstehe jeden, der sagt: wir müssen Waffen liefern, damit die Ukraine gewinnen kann, denn Putin marschiert weiter. Ja, vielleicht tut er das: allerdings wären als nächstes Nato-Länder dran und da ist dann doch das Narrativ der Abschreckung? Ich verstehe auch jeden, der sagt, dass wir Waffen liefern müssen, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern: auch da allerdings frage ich mich, ob das nicht gerade dazu führen könnte? Ich weiß es nicht.
Ich verstehe auch jeden, der sagt, wir müssen Waffen liefern, damit die Menschen nicht in einer Diktatur leben. Ja, auch da gehe ich mit: auch ich will nicht, dass die Ukraine eine Diktatur unter russischer Aufsicht wird. Ich sehe nur, dass wir vorher zugelassen haben, dass Menschen in Russland selbst oder in ehemaligen sowjetischen Republiken so leben müssen – und weiter nur unsere Wirtschaft im Blick gehabt haben.
Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich sehe nur, dass Waffen keinen Frieden bringen – und ob sie Putin zurück an den Verhandlungstisch bringen, bezweifle ich: hoffe aber, dass ich Unrecht habe.

Worauf ich allerdings mit diesem Text hinaus will, ist folgendes: Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, macht es sich leicht. Niemand, egal, wie sein oder ihr Fazit sein wird, weiß, ob er oder sie recht hat. Es gibt so Entscheidungen, die immer falsch sind. So oder so.
Und daher wünsche ich mir etwas mehr Respekt von beiden Seiten. Denn eins ist klar, Menschen, die nicht einmal untereinander Frieden halten können, die den Respekt den Nächsten gegenüber verloren haben, die sind nicht geeignet Frieden zu schaffen, egal, auf welcher Seite sie stehen.
Es mag abgedroschen sein: aber Frieden fängt im Kleinen an. Wenn wir uns zerstreiten, ist das ein Sieg Putins.
Fangen wir wieder an, einander wirklich zuzuhören. Versuchen wir, einander zu verstehen: das muss man wollen. Versuchen wir, unsere Ansicht, unser Ringen darum, was richtig ist, zu erklären. Im Endeffekt wollen wir alle das gleiche: dass dieser Krieg aufhört, dass der Angriff auf einen souveränen Staat auch über ein Ende des Krieges hinaus Thema bleibt, geächtet wird und mit friedlichen Mitteln diese Ächtung auch zum Ausdruck gebracht wird. Dass die Ukrainer in ihre Heimat zurückkehren können als freie Menschen. Dass das Töten, dass sinnlose Sterben von jungen Männern und Frauen, die doch auch nichts anderes wollen als leben, endlich ein Ende hat.
Wir streiten über die Wege dahin: dass ist legitim. Aber wir sollten immer wissen, dass niemand sich die Entscheidung leicht macht, dass wir alle um den richtigen Weg ringen.
Das könnte unser Beitrag zum Frieden in der Welt sein. Lassen wir Putin nicht gewinnen.