Gedanken zur Europawahl

Am Sonntag ist Europawahl. Grund genug, einmal darüber nachzudenken, was mir Europa eigentlich bedeutet. Also, eigentlich geht es ja um die Europäische Union, niemand würde Großbritannien absprechen, ein Teil Europas zu sein.

Was also bedeutet für mich die Europäische Union? Bedeutet sie überhaupt irgendwas?

Wenn man darüber nachdenkt, dass vor 80 Jahren Krieg herrschte, auf Europäischem Boden: da hat noch niemand kommen sehen, dass es einmal eine Europäische Union geben würde mit gemeinsamer Gesetzgebung und gemeinsamen Parlament so wie einen Europäischen Gerichtshof, den jeder anrufen kann, wenn er glaubt, seine Rechte würden in seinem Land micht gewahrt. Im Gegenteil: man mochte sich nicht besonders. Frankreich und Deutschland trennte eine Art „Erbfeindschaft“, die man noch nach Jahren dort spüren konnte anhand der Skepsis gegenüber Deutschen. Auch sonst gab man sich als Deutscher nicht so gern zu erkennen, in Frankreich und auch in anderen europäischen Ländern. In Heimat- und Geschichtsmuseen waren wir „die Bösen“ – ich weiß, dass ich in solchen Museen, wo es um den 2. Weltkrieg ging, immer stumm war. Vor Entsetzen, aber auch vor Angst, als eine von denen erkannt zu werden.

Nun, ich bin Jahrgang 63. Als ich zur Welt kam, gab es bereits einen Europäischen Rat (1949), die EG für Kohle und Staat (1952), einen Vertrag zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsländer und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie (1957). Zusammengeschlossen hatten sich Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland.
Mehr Länder kamen hinzu, die Zusammenarbeit wurde intensiver, aus der reinen Wirtschaftsgemeinschaft EWG wurde erst die EG, dann, 1993, die Europäische Union. Es gab noch Vorbehalte, Frankreich wehrte sich z.B. gegen den Beitritts Englands, aber es gab auch erste Erfolge: Binnenzölle wurden abgeschafft, was die Wirtschaft ungeheuer belebte.
1979 wurde das erste Europäische Parlament direkt gewählt – von den Bürgern aus 9 Mitgliedsstaaten. 1990 kam Schengen: ab da gab es zwischen Frankreich, Deutschland und den Beneluxstaaten keine Personenkontrollen mehr. Diesem Abkommen traten nach und nach andere Mitgliedsstaaten bei: soviel zu „Merkel hat die Grenzen geöffnet“ – die waren bereits längst offen.  Das waren erste Auswirkungen, die ich tatsächlich auch spürbar merken konnte: die langen Schlangen bei der Ein- und Ausreise in Europäische Urlaubsstaaten fielen weg, man konnte mal eben in die Niederlande zum Einkaufen, ganz ohne Zollkontrolle.
Auch die Währungsgemeinschaft nahm immer mehr Formen an: am 1.1.2002 kam der Euro dann auch als Bargeld in 12 Staaten, auch das wurden nach wie vor mehr. Inzwischen ist die EU ein Verbund von 27 Staaten, der folgendes klar hat: das, was sinnvoll ist, wird gemeinsam geregelt, da, wo es nicht notwendig ist, tritt das Subsidiaritätsprinzip in Kraft. Grundrechte und nationale Identitäten sind ausdrücklich geschützt.

Was aber genau habe ich davon, wenn man das Schengener Abkommen mal weglässt und die Tatsache, dass ich nicht mehr immer Geld tauschen muss, wenn ich ins Ausland fahre? Reisen ist definitiv leichter geworden, auch, was den Krankheitsfall angeht. Ich kann überall elektronisch zahlen. Und ich kann davon ausgehen, dass bestimmte Gundlagen existieren: z.B. das Trinkwasser durch die Leitungen fließt, wenn nichts anderes angegeben ist und ähnliche gesundheitsschützende Maßnahmen.

Die Europäische Union erleichtert den Handel untereinander. Ich kann überall in der EU wohnen und arbeiten, diese Freizügigkeit ist ein Segen. Was passiert, wenn diese nicht mehr existiert, kann man gerade in England beobachten: die vielen Mediziner vom Festland, die dort ganz oder teilweise gearbeitet haben, sind weg, überhaupt ist es für EU-Ausländer schwieriger geworden, so dass an allen Ecken und Enden Ärzte fehlen und andere Fachkräfte.

Die Wirtschaft sieht sich plötzlich mit Zöllen konfrontiert, was Waren teurer macht, das Transportwesen mit langen Wartezeiten an den Grenzen: das alles macht die Lage in England schlechter, was jetzt auch Menschen sehen, die für den Brexit waren.

Das heißt im Umkehrschluss: auch darin liegen für uns Vorteile, die wir so im Alltag vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen.

Hinzu kommt aber noch mehr: wir handeln miteinander, wir tauschen uns aus, wir leben die Freizügigkeit: das alles führt dazu, dass alte Feindschaften aufgebrochen werden, Vorbehalte entkräftet und wir letztendlich fast 80 Jahre Frieden haben.

Diese Dinge sollten wir, auch wenn wir vielleicht einiges kritisch sehen an der EU, einiges als ungerecht empfinden, einiges lieber national geregelt sähen nicht aufgeben. Und wie es weitergeht, das haben wir in der Hand: wenn wir am Sonntag ein neues Parlament wählen dürfen.

Stärken wir die demokratischen Parteien, gehen wir wählen, geben wir den Rechten und den Spaltern keine Chance, damit wir weiter friedlich zusammenleben können.