Jahreswende 2022/23

Wieder geht ein Jahr vorbei. Wir haben es aufgegeben, so Phrasen wie „es kann nur besser werden“ von uns zu geben: Corona, Kriege, Hungersnöte und Klimakrise belehren uns eines Besseren: es geht immer noch schlechter.

Und wir blicken zurück und sehen nur Katastrophen, persönliche möglicherweise, aber auch weltweit. Ich könnte mich jetzt diesem Reigen anschließen: es flösse mir leicht aus der Feder.

Aber ist das die richtige Sichtweise? Führt das nicht eher zu Resignation und zu einem „ich kann doch eh nix ändern“?

„Wieso stellt Ihr Euch jeden Freitag auf den Rathausplatz und schweigt für den Frieden? Schweigen ist einfach und bringt genau nix, tut doch lieber was“ – so oder so ähnlich hören wir durchaus häufiger. Ja, man kann es so sehen. Wir sehen es anders: in unserer Hilflosigkeit ist es eine Möglichkeit, sich solidarisch zu zeigen. Es ist ein Weg, darauf hinzuweisen, dass es diesen (und andere) Krieg gibt und dass es uns durchaus etwas angeht. Inzwischen sind es neben uns beiden Organisatoren weitere 5 Menschen äußerst regelmäßig, andere kommen sporadisch dazu. Viele Menschen, die uns sehen, finden gut, was wir tun: sogar die Jugendlichen, die sich dort auf der Bank treffen, haben immer einen Daumen hoch für uns. Das heißt jetzt ja nicht, dass wir uns im Schweigen verlieren. Das heißt aber, dass es Möglichkeiten gibt, Hoffnung und Solidarität zu verkünden, auch dann, wenn alles aussichtslos erscheint.

Wenn man auf das vergangene Jahr blickt, dann sieht man neben dem Schrecken des Krieges ungeheuer viele Menschen, die sich engagieren. Die den Geflüchteten helfen. Die ins Kriegsgebiet fahren, um Hilfe zu bringen. Bereits am Samstag nach Kriegsausbruch fuhr der erste Transport von action medeor Richtung Ukraine – während einer Friedensdemo vor dem Rathaus in Tönisvorst, wo die Organisation ihren Sitz hatte und an der ihr Präsident teilnahm. Eine Welle von Hilfsbereitschaft wurde freigesetzt, das ist die gute Nachricht neben all den Schlechten.

Der Hunger in der Welt nimmt wieder zu. Das ist eine erschreckende Nachricht. Aber im Dezember hat WDR 2 mit seiner Glashausaktion auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt in 5 Tagen über 7 Millionen Euro an Spenden gesammelt, um den Hunger der Welt insbesondere der Kinder zu lindern: viele Menschen haben Aktionen gestartet, um dies zu unterstützen, Kinder haben ihr ganzes Taschengeld gegeben: eine Emphatiewelle, die ihresgleichen sucht.

Der Klimawandel schreitet voran und erhitzt die Gemüter. Aber immer mehr Menschen, abseits des großen Geschreis, versuchen, dass Ihre beizutragen: manche, die mit dem 9 Euro-Ticket den ÖPNV ausprobiert haben, fahren trotz der höheren Kosten weiter öffentlich zur Arbeit. Andere versuchen, sich von Gas und anderen fossilen Energieträgern möglichst unabhängig zu machen. Wieder andere schränken ihren Fleischkonsum drastisch ein und steigen überwiegend oder gleich ganz auf ein vegetarisches oder veganes Leben um. Sie haben festgestellt, dass man auch bei einer Temperatur von 19 oder 20 Grad in Wohnung und/oder Büro nicht erfriert. Beim Einkaufen achten sie auf Lieferketten, Nachhaltigkeit und Transportwege. Auch da kann man positive Ansätze erkennen.

Für mich persönlich gab es eine Menge Gutes in diesem Jahr, wenn ich genau hinschaue: Das Jahr begann am Meer – ein Traum ging für mich in Erfüllung. Zwar gibt mir die Kirche immer weniger Grund, zu bleiben oder gar in ihr aktiv zu sein, dennoch habe ich nun gefunden, wie mein Weg mit dieser Kirche weitergehen kann: Als Kirchenrechtlerin, als Anwältin innerhalb der Kirche im Arbeitsrecht und vor allem an der Seite der Missbrauchsopfer – deshalb habe ich entschieden, ab dem Wintersemester 2023/24 nach Münster zu wechseln, um dort die notwendige Qualifikation zu erhalten.

Auch in unserer Familie gab es einige wunderschöne Ereignisse und Feste. Wir hatten schöne Ausflüge und Urlaube, wenn auch einmal coronaeingeschränkt. Wir haben wieder entdecken dürfen, wie schön die Welt ist und wie kostbar das Leben. Es gab wundervolle Begegnungen mit alten Bekannten und Freunden, und es gab neue Bekanntschaften: die letzten drei Tage waren gefüllt damit, dass die Gastmutter unserer Jüngsten, bei der sie vor 11 Jahren gewohnt hat, zu Besuch kam: es war sehr bereichernd.

Ja, klar, es war und ist auch bei uns nicht alles gut. Aber ich glaube, es ist wichtig, anders hinzugucken: wenn ich mich verliere in dem, was schiefläuft, dann sehe ich das andere nicht mehr, das Schöne. Wenn ich über die Dunkelheit der Nacht weine, vergesse ich, dass die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Und irgendwann gebe ich auf. Blicke ich dagegen auf das, was gut ist, auf die Begegnungen, auf die kleinen schönen Dinge, sehe ich auf die Menschen, die helfen statt auf die, die hetzen: dann ändert sich mein Blickwinkel, und das ermöglicht mir, statt zu erstarren lebendig zu sein, Hoffnung zu schöpfen und aus der Hoffnung heraus zu leben. Das Meine zu tun, damit auch andere Hoffnung schöpfen können, dazu beizutragen, dass auch andere leben können.

Das heißt nicht, die Augen vor dem Übel der Welt zu verschließen. Im Gegenteil. Es geht darum, zu sehen, dass sich leben lohnt – und sich dafür einzusetzen, dass es weitergehen kann. Wer weiß? Wenn wir das ausstrahlen, werden wir mehr und, möglicherweise, wie bei dem Weihnachtswunder des WDR werden wir tatsächlich Teil eines Wunders.

In diesem Sinne wünsche ich all meinen Leser*innen ein lebenswertes neues Jahr!

Gedanken zum Weltflüchtlingstag

Heute ist Weltflüchtlingstag.
Die Meinungen zu Menschen, die flüchten, gehen ja weit auseinander, ein Grund für mich, einmal darüber nachzudenken, warum wir die Geflüchteten so unterschiedlich sehen und behandeln.
Sicher, es gibt verschiedene Fluchtgründe. Jetzt gerade, die Menschen, die aus der Ukraine flüchten, die haben unser volles Mitgefühl: sie sehen fast so aus wie wir, lebten zumindest zu einem großen Teil ein ähnliches Leben, sind oftmals gut ausgebildet, überwiegend christlich sozialisiert, flüchten vor einem unmenschlich grausamen Krieg und sind Europäer. Ach ja, und es sind überwiegend Frauen und Kinder, die Männer bleiben zurück, weil sie ihr Land verteidigen wollen. Auch, wenn dieses Wollen oft nicht freiwillig ist: sie werden einfach nicht rausgelassen. Die meisten würden gerne schnell wieder zurückgehen. Ach ja, und manche von ihnen haben bei uns ja schon in der Pflege gearbeitet, so im 3 Monatsrhythmus… Kein Vergleich z.B. zu den Syrern, die kamen (und kommen) zwar auch aus einem Land, in dem ein grausamer Krieg immer noch herrscht, lebten zumindest zu einem großen Teil ein ähnliches Leben wie wir und sind oftmals gut ausgebildet: aber sie sind keine Europäer, viele junge Männer sind darunter (weil die Flucht an sich lebensgefährlich war), und Christen scheinen auch die wenigsten zu sein: also werden die Ukrainer schnellstens anerkannt, erhalten Sprach- und Integrationskurse, dürfen kostenfrei den ÖPNV nutzen und bekommen Hartz VI – und (fast) keiner schimpft darüber, dass sie Handys dabei haben (manche sind sogar mit dem Auto hier!) – und viele Syrer harren bis heute in den Unterkünften aus, von (schneller) Anerkennung, die Grundlage für Sprach- und Integrationskurse ist, und Hartz IV keine Spur, genau wie bei anderen Kriegsflüchtlingen aus aller Welt.
Dann gibt es die Asylbewerber: da unterscheiden wir dann sehr genau, ob sie vom Staat politisch verfolgt werden oder vielleicht doch nur von terroristischen Banden oder den Bürgern des Staates: nur erstere haben einen Asylgrund, auch wenn sie ebenfalls nicht so vorrangig behandelt werden wie die Ukrainer. Wenn sie dagegen nicht von Seiten des Staates verfolgt werden, haben sie keinen, manchmal bekommen sie eine Aufenthaltserlaubnis, z.B. christliche Frauen aus Nigeria, die dort besonders gefährdet sind – ein christlicher Nigerianer, den ich kennengelernt habe, durfte dagegen – trotz nachgewiesener Folter durch Boko Haram – nicht bleiben…
Und wer sein zu Hause verlässt, weil der Klimawandel ihm kein Bleiben ermöglicht, weil er oder sie vor Ausbeutung flieht, vor Hunger, vor behandelbaren Krankheiten, weil er oder sie sein Kind vor einem Leben in Elend und Not bewahren will – nun, diese Menschen haben keinerlei Recht, in die EU/nach Deutschland zu kommen.
Wie oft hört man, auch von Menschen, die sich christlich nennen, die NGOs mögen doch bitte die Schlepperei im Mittelmeer lassen: es sei nur ein Anreiz zur Flucht: dabei ist es längst bewiesen, dass die Menschen auch dann flüchten, wenn sie wissen, dass kein Seenotretter unterwegs ist. Ganz ehrlich: glauben wir wirklich, dass sich diese Menschen alle, oft auch mit Frauen und Kindern, in Lebensgefahr begeben, weil sie in Deutschland von Sozialhilfe leben wollen?
Ich verstehe diese Unterschiede nicht. Trotz allem, ja, auch trotz der hohen Energiepreise, sind wir ein reiches Land. Niemand muss aus Deutschland flüchten. Ja, es gibt soziale Verwerfungen, die nicht sein müssten, es gäbe durchaus Lösungsmöglichkeiten für viele Probleme. Aber dennoch: es fallen keine Bomben, die allermeisten haben ein Dach über dem Kopf, ein Bett für sich allein und jeder hat ein Recht auf Schulbesuch und Ausbildung. Und davon wird nichts weniger, wenn wir alle Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen, im Gegenteil: die allermeisten würden gerne Arbeiten, eine Ausbildung machen oder ihre (oft bessere) Ausbildung hier anerkennen lassen. Auf der anderen Seite gibt es freie Stellen, auch freie Ausbildungsplätze, die nicht besetzt werden können. Es fehlen Kräfte in der Pflege und in Handwerk und Industrie. Oft haben Geflüchtete Jugendliche in wenigen Jahren einen guten Schulabschluss, können studieren: wenn die Voraussetzungen dafür, dass sie in die Schule gehen können, entsprechend sind. Als Werktätige aber würden diese Menschen Steuern zahlen und in die Sozialkassen einzahlen: alles das wäre dringend erwünscht. Stattdessen schotten wir uns immer weiter ab, lassen Menschen ertrinken oder in den Wäldern an Polens Grenze jämmerlich erfrieren, verhungern oder an Krankheiten sterben, an denen kein Mensch sterben muss.

Warum machen wir diese Unterschiede? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es fatal ist: Menschen, die in Lagern leben, die nicht arbeiten dürfen, denen man um 10 Uhr das Licht abdreht oder das Rauchen verbietet, den Ausgang reglementiert, deren Traumata man nicht behandelt, werden schlimmstenfalls auf dumme Gedanken kommen. Die dann an den Umständen liegen, nicht an der Mentalität, wie so gerne gesagt wird. Menschen, die arbeiten wollen und deren Arbeitskraft auch dringend benötigt wird nicht kommen zu lassen ist zudem auch ziemlich dumm.
Vor allem ist es aber unchristlich. Auch, wenn die Menschen keine Christen sind. Und unmenschlich. Es gibt keinen Grund, Unterschiede zu machen. Es ist kein Verdienst, in Deutschland geboren worden zu sein statt in Afghanistan oder Nigeria. Es ist kein Verdienst, in einer sich christlich nennenden Umgebung aufgewachsen zu sein statt als Uigure in China. Es ist kein Verdienst, in ein Land hineingeboren zu sein, dass eine freiheitlich rechtsstaatliche Demokratie ist und nicht in eine Diktatur. Es ist Glück. Und Glück vermehrt sich, wenn man es weitergibt.  Wir sollten aufhören, die Welt auszubeuten. Den Klimawandel zu ignorieren. Flüchtlinge in richtig und falsch einzusortieren. Wir leben in einer globalen Welt. Wenn wir weiter friedlich leben wollen, müssen wir uns klarmachen, dass das nur geht, wenn wir anstreben, dass alle Menschen menschenwürdig leben können. Und doch, wir können etwas dazu beitragen. Denn wir leben auf Kosten der anderen. Was können wir tun? Es sind ganz banale Dinge wie Energiesparen, öfter mal das Auto stehen lassen und statt 10 billiger T-Shirts, die nach der ersten Wäsche verzogen sind, vielleicht lieber nur ein oder zwei kaufen, die fair hergestellt sind und zu dem länger halten. Wir müssen keine Lebensmittel aus Übersee essen, deren Klima- und Umweltbilanz fatal ist. Auch, wenn sie vielleicht superlecker sind. Oder zumindest nicht täglich. Wir können Gemüse saisongerecht kaufen. Unseren Fleischkonsum einschränken – und zumindest vielleicht mal ausprobieren, wie es sich als Vegetarier oder Veganer lebt – und einiges davon vielleicht auch übernehmen. Kaffee aus fairem Handel ist pro Tasse nur ein paar Cent teurer als anderer. Jeder und jede kann für sich überlegen, welche Maßnahmen er oder sie in ihrem Leben umsetzen möchte – und manchmal stellt man fest, dass weniger mehr ist. Wir können auch politisch anders denken: muss ich vielleicht neu über Windräder nachdenken? Ist das St.Floriansprinizip immer die bessere Alternative? Wer hat die globale Welt im Blick, wenn ich das nächste Mal zur Wahl gehe? Welche Petitionen, welche Anliegen unterstütze ich? Sind Demos für mich eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen? Der Möglichkeiten sind viele für die, die eine gerechtere Welt wollen.
Es wäre auch für Menschen angebracht, darüber nachzudenken, denen die Welt am Popo vorbeigeht. Wir leben in einer globalen Welt. Wenn wir anderen das Leben, das wir uns gönnen, nicht zugestehen: irgendwann überrennen sie uns dann vielleicht wirklich und holen sich das, was wir ihnen vorenthalten.