Gedanken zu St.Martin

Niederrhein. Heute ist St. Martin. Überall ziehen, zumindest in diesen Breiten hier, Martinszüge durch die Städte, und die Story vom Teilen wird Kindern nahegebracht: trotz Eiseskälte hat St. Martin seinen Mantel geteilt mit dem armen Bettler am Straßenrand (man kann darüber diskutieren, ob er es durfte oder ob es ihm sogar leicht viel, weil der Mantel seinem Arbeitgeber gehörte, aber sei es drum 😉 ).

Marin von Tours hat es wirklich gegeben – wieviele der Geschichten, die über ihn erzählt werden, einen Wahrheitsgehalt haben, weiß niemand so genau. Sulpicius Severus, einer seiner Weggefährten, schrieb einige Begebenheiten seines Lebens nieder. Sicher ist: Martin war vor Ablauf seiner Soldatenzeit ein hochrangiger Militär und hat, als er Christ wurde, versucht, vorzeitig aus dem Armeedienst auszusteigen. Sein Ziel: den Menschen zu helfen.

Ortswechsel: Grenze zwischen Polen und Belarus. Viele verzweifelte Menschen versuchen, an der Grenze in die EU zu gelangen, um einen Asylantrag stellen zu können. Sie kommen aus Afghanistan, aus dem Irak, und sie wollen eins: in Sicherheit leben können. Polen tut alles, die Flüchtlinge zu vertreiben, und geht dabei noch weiter, als es bisher üblich ist: neben illegalen Pushbacks, die von Amnesty International dokumentiert sind, wird ihnen Wasser und Nahrungsmittel verweigert und insbesondere auch die ärztliche Versorgung. Die Dokumentation vor Ort ist schwierig, weil auch Anwält:innen und Journalist:innen der Zugang blockiert wird, trotz einer eindeutigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Aber manches dringt eben doch durch: Anwohner der dünnbesiedelten Zone erzählen von verhungernden Menschen, von dünnen Pullovern in Eiseskälte und schrecklichen Zuständen. Einer der Toten war Gailan Ismail, 26 Jahre alt, aus dem Irak: er starb, weil ihm medizinische Hilfe verweigert wurde. Er war auf dem Weg zu Verwandten nach Krefeld, wo er ein neues, sicheres Leben anfangen wollte.

Ortswechsel: EU. Die Politikerinnen und Politiker der EU gucken nicht weg. Sie schauen hin, debattieren und stellen dann fest: Polen soll fest bleiben, Lukaschenko soll aufhören, die Flüchtlinge zu schicken, und auf keinem Fall will man sich von ihm erpressen lassen. Das die Menschenrechte auch von Polen und somit von der EU mißachtet werden, dass das europäische Asylrecht ausgehebelt wird, wenn man die Menschen mit Gewalt davon abhält, europäischen Boden zu betreten – wen interessierts? Menschen werden zum Spielball politischer Kräfte. Sie werden quasi entmenschlicht, die Sprache, auch in den Medien, ist schon wieder entsprechend: von Flüchtlingsströmen ist die Rede, von Ansturm, von Durchbruch…

St. Martin teilt den Mantel mit dem Bettler. Das christliche Europa feiert ihn, heute. Während dessen lassen wir Menschen an unseren Grenzen erfrieren. Und die, die, zumindest im Internet, laut schreien, dass St. Martin St.Martin bleiben muss, tönen mit Blick auf die frierenden Menschen dort an der Grenze: „Wer sich in Gefahr begibt kommt darin um“.

Die Botschaft von St. Martin spielt da keine Rolle mehr: wir beschränken Teilen und Mitgefühl auf Folklorefeste.

(Quellen: z.B. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/polen-belarus-migranten-durchbruch-grenzsicherung-russland-100.html; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-belarus-123.html; https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/polen-belarus-afghanische-asylsuchende-rechtswidrige-push-backs; Seebrücke Krefeld)

Das Boot ist noch lange nicht voll

Nach meinen Gedanken zu Europa komme ich jetzt näher. Deutschland. Ein Land, in dessen Verfassung, dem Grundgesetz, an aller erster Stelle steht: die Würde des Menschen ist unantastbar.

Was Mut macht: viele Städte und Gemeinden, Landkreise und Bundesländer und auch Kirchengemeinden sind bereit, Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen. Sie haben Kapazitäten und Möglichkeiten, sie sagen genau, was sie leisten können. Das würde die Lage vor Ort deutlich entschärfen, und insbesondere unbegleitete Kinder und Familien mit Kindern bekämen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft, Nahrung, Hygiene, ärztlicher Versorgung und einem geordneten Verfahren, dass über ein Asyl- und/oder Bleiberecht entscheiden würde. Diese Bereitschaft lässt mich hoffen, dass wir doch noch nicht so tief gesunken sind, wie es erscheint.

Auf der anderen Seite steht die Politik, vor allem die Politiker mit dem „C“ im Namen ihrer Partei. Sie verhindern, dass diese Menschen hierherkommen können, indem sie so Sprüche klopfen wie: „nur im Rahmen aller/oder zumindest mehrerer Europäischer Staaten“, „ein Alleingang wäre fatal“, „wir können keinen aufnehmen, wir haben keinen Platz“, „jeder Flüchtling mehr bringt eine Stimme mehr für die AfD“ und vieles mehr, was in meinen Ohren teilweise so menschenverachtend klingt, dass ich es gar nicht aufführen möchte. Lindner spricht von „Kontrollverlust“ und Friedrich Merz sagt den Flüchtlingen direkt ins Gesicht, dass wir sie hier nicht haben wollen. Ursula von der Leyen (ok, die ist nun wieder Europa) lobt Griechenland – das Land, was gerade völkerrechtswidrig das Asylrecht außer Kraft gesetzt hat und Menschen, die bereits in Griechenland angekommen sind, zurückschickt – gegen jede Regelungen der Europäischen Union, gegen die Menschenrechte.

Und alle sind sich einig: kein zweites 2015. Nun, dass will niemand. Aber damit es nicht dazu kommt, muss man jetzt (und hätte man schon vor Monaten und Jahren) die kontrollierte Einreise ermöglichen, und ja, wenn‘s nicht anders geht, im Alleingang. Es gäbe keinen Kontrollverlust wie 2015: wir wüssten ja, wer kommt, wir würden die Menschen ja quasi kontrolliert einfliegen. Wir wissen nun auch wie’s geht – 2015 war da ein gutes Übungsjahr. Viele, die damals gekommen sind, sind inzwischen durch ein Anerkennungsverfahren gegangen, haben Deutsch gelernt und sind in Arbeit oder Ausbildung. Die Kinder gehen zur Schule – bei den meisten läuft es. Und wir haben Kapazitäten – es wurden damals ja gar nicht so viele wie befürchtet. Die Aufnahmewilligen haben ja geprüft, was sie leisten können. Und keiner will, dass alle Flüchtlinge dieser Welt nach Deutschland kommen. Und die meisten wollen auch nicht, dass auch die, die kein Bleiberecht haben, bleiben.

Aber: wir hätten die Möglichkeit den Menschen zu helfen. Wir nennen unsere Tradition und unsere Werte christlich: das, was da jetzt abgeht, dieser Grenzkrieg gegen die Ärmsten der Armen, neues Geld an Herrn Erdogan bis zur nächsten Erpressung, das ist nicht mehr christlich und auch nicht human. Das ist menschenverachtend.

Denken wir immer daran: es geht nicht um Verhandlungsmasse. Es geht um Menschen, die nach unserer Verfassung alle die gleiche Würde haben. Diese Würde wird an den EU-Außengrenzen mit unserem Geld, unserer Zustimmung und demnächst möglichweise mit unseren Soldaten mit Füßen getreten. Warum? Kapazitätsgründe können es, wie aufgeführt, nicht sein. Am Geld kanns auch nicht liegen, wenn unsere Regierung bereit ist, der Türkei noch einmal welches zu geben.

Am Erstarken der AfD? Nun, wenn wir jetzt nicht handeln, hat sie gewonnen. Dann ist Deutschland wieder ganz unten angekommen, so wie schon einmal vor fast 100 Jahren.

Daher gibt es nur eins: gehen wir auf die Straßen, machen wir Druck, damit unsere Politiker so handeln, wie es unseren Werten entspricht, egal ob christlich oder humanistisch: jetzt zeigt sich, wer Rückgrat hat, die Geschichte kennt und die Menschenrechte und unser Grundgesetz schützen will.