Zwischen den Jahren – Betrachtungen

Rauhnächte nannte man diese Zeit früher: der Vorhang zwischen unserer Welt und der Anderswelt sei besonders dünn, so die Sage, und daher treiben Unholde sich in unserer Welt rum und treiben ihren Spaß mit den Menschen.

Zwischen den Jahren: eine Zwischenzeit, eine Anderszeit, so empfinden es sicher viele: Zeit des Rückblicks aber auch des Blickes in die Zukunft…

 „Glauben Sie wirklich Gott und an das ewige Leben“ – diese Frage stellen Angehörige von Verstorbenen gerne, wenn sie selbst kirchenfern für ihre Eltern oder andere Angehörige eine kirchliche Beerdigung wünschen – weil diese das so gewollt hätten.

Für mich immer wieder neu, darüber nachzudenken, woran ich wirklich glaube. Und ja, ich glaube, dass es irgendwie weitergeht nach dem Tod, und ich glaube auch, dass wir irgendwie verbunden bleiben mit den Menschen, die wir hier auf Erden geliebt haben. Durch die Erinnerung, durch die Liebe, die wir durch sie empfangen durften oder mit der wir sie geliebt haben. Durch ein Band, dass im Leben geknüpft wird und der Tod nicht trennen kann. Ich stelle mir gerne eine Lichtung vor, auf der anderen Seite des Flusses, wo die Menschen mit Gott zusammenleben im immerwährenden Frieden.

Und ja, ich weiß, dass das nur eine Vorstellung ist, eine Projektion meinerseits. Vielleicht ist alles ganz anders. Niemand, auch der Frömmste egal welcher Religion, weiß, was mit uns passiert, wenn wir sterben. Aber ich glaube, dass wir alle von Gott gewollt sind und daher weiterleben werden.

Ich glaube nicht an einen personalen Gott, der in die Welt eingreift, der Menschen krank macht oder gesund, der die einen sterben lässt und die anderen Leben, die einen siegen und die anderen verlieren. Aber ich glaube an ein göttliches Wesen, das Vater und Mutter gleichzeitig ist, dass uns trägt, wenn wir den Boden unter den Füßen verlieren, das bei uns ist, wenn wir Angst haben, wenn wir nicht mehr weiterwissen und uns stärkt, wenn wir in der Dunkelheit uns zu verirren drohen.

Und ich glaube, dass es unwichtig ist, ob und wie wir an Gott glauben: er glaubt an uns.

Und so wünsche ich mir und allen, die dies hier lesen, dass wir getragen in das neue Jahr gehen können und trotz aller Dunkelheit um uns her das Licht der Hoffnung erkennen.

11. September: Gedenken und Hoffnung

Ground Zero

Seit 19 Jahren ist der 11. September ein Tag, an dem die Welt sich erinnert – an einen schrecklichen Terroranschlag, dem mehrere Tausend Menschen zum Opfer fielen: Menschen, die aus den brennenden Türmen sprangen, weil sie nicht verbrennen wollten, und ähnliche Szenen haben sich auf unsere Netzhaut gebrannt – selbst die, die damals noch klein waren, haben diesen Tag im Gedächtnis. Für meine Familie war er besonders nah: mein Mann war am Tag vorher nach New York geflogen, erst abends um 7 konnte er sich melden, und wir bangten lange, ob und wie er wieder nach Hause kommen würde. Unsere Jüngste war noch im Kindergarten – ich glaube, unsere Kinder haben den Tag, und die Angst, die wir hatten, genauso abgespeichert wie ich. Es war ein Tag der Apokalypse, keiner wusste, wie es weitergehen konnte. Gewalt erzeugt Gewalt – und so zog dieser Tag Drohgebärden und Kriegsgeschrei nach sich, die endgültige Einteilung der Welt in gut und böse, Terror, Krieg, Angst, Schrecken und Schuldzuweisungen nahmen zu in einer Welt, in der man doch eigentlich aufgeklärt weiter sein sollte.

19 Jahre danach: was hat sich geändert? Immer noch steht das Gedenken an diese Menschen im Fokus der Welt, in New York, in den USA, aber auch in der ganzen westlichen Welt. Und das ist richtig und wichtig. Aber der Tag mahnt auch, genauer hinzusehen: Die Opfer waren bunt gemischt: Menschen jeder Hautfarbe, Menschen aus der ganzen Welt, Christen, Juden, Muslime, Atheisten – im Tod waren und sind sie alle gleich. Auch unter den Opfer gab es sicher gute Menschen und weniger gute, Menschen, die Dreck am Stecken hatten, Menschen, die nur ihren Vorteil wahren wollten genau wie Menschen, die anderen zugetan waren, helfen wollten, für eine bessere Welt kämpften. Sie alle vereint im Tod, einem Tod durch Hass, einen Hass auf die „westliche Welt“, die als Bedrohung angesehen wurde und wohl auch noch wird – und es in Teilen sicher auch ist, denn der Westen, wie man so schön sagt, ist gut darin, den Menschen zu sagen, was richtig und was falsch ist, wie man zu leben und wie man zu glauben hat und wer wo und wie welche Rechte hat oder eben nicht.

19 Jahre danach sind wir an einer ähnlichen Katastrophe knapp vorbeigeschrammt: das Lager Moria ist abgebrannt, es lebten dort 5 mal so viel Menschen, als eigentlich „passten“ und es ist ein Wunder, dass es augenscheinlich keine Toten gegeben hat. Diesmal war es kein Terroranschlag, es wird wohl nie zweifelsfrei geklärt werden, wie es zu dem Feuer kam. Diesmal sind die Reaktionen der „westlichen Welt“, insbesondere Europas, aber deutlich anders: zwar spricht man von einer humanitären Katastrophe, gerne so, als sei sie plötzlich über uns zusammengebrochen und nicht schon lange Zeit im Entstehen. Aber statt schnell und unbürokratisch zu helfen, wird erst einmal diskutiert, wer helfen muss und wem und warum…

19 Jahre danach haben die Menschen wieder Angst: die einen berechtigt um ihr Leben, weil sie in menschenunwürdigen Zuständen dahinvegetieren, die anderen vor einer Krankheit, die sie nicht einschätzen können, vor dem Verlust ihres Wohlstandes, und vor allem vor diesen Menschen aus Moria, die vielleicht doch alle Verbrecher sein könnten und unsere Heimat in Brand setzen…

19 Jahre danach haben wir nichts, aber auch gar nichts gelernt – wir teilen die Welt immer noch ein in gut und böse, in Opfer, die an ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld sind und Menschen wie wir, die ein Recht darauf haben, in Ruhe gelassen zu werden.

19 Jahre danach sind Menschen immer noch nicht gleich – obwohl wir der Toten von damals gedenken, ungeachtet ihres Hintergrundes, sortieren wir alle anderen ein – ja wie eigentlich?

Aber ich merke auch das Gegenteil. Ich merke auch, dass immer mehr Menschen wach werden, dass immer mehr Menschen aufhören, Menschen in irgendwelche Schubladen zu stecken, dass immer mehr Menschen kapieren, dass wir alle im Grunde gleich sind in unserer Verschiedenheit: Menschen mit dem gleichen Recht auf Leben.

Sorgen wir dafür, dass diese Erkenntnis weiter um sich greift. Gehen wir ohne Vorurteile auf andere Menschen zu, lassen uns auf ihre Andersartigkeit ein und geben ihnen einen Platz in diesem, unserem Leben. Ich glaube, das kann Kreise ziehen. Wie heißt es doch: ins Wasser fällt ein Stein, ganz heimlich still und leise, und ist er noch so klein, er zieht doch weite Kreise…

Wenn jeder von uns versucht, vorurteilsfrei auf andere Menschen zuzugehen, und jeder hilft, dass andere Menschen auch ein Recht und die Möglichkeiten hat, menschenwürdig zu leben, jeder das seine dazu tut, dass diese Welt nicht noch mehr zerstört wird und somit Verteilungskämpfe zunehmen, dann, ja dann keimt die Hoffnung, dass ein nineeleven nie wieder passieren wird.

75 Jahre nach Kriegsende

Kriegsende. 8. Mai 1945

Ich stelle es mir mal vor, so, wie es die Mitglieder meiner Familien erlebt haben müssen, die gerade keine Mitläufer waren: endlich raus aus der Angst, endlich wieder frei leben können.

Und es war Frühling, die Natur wagte einen Neuanfang – das half.

Die Situation damals war sicher alles andere als gut: zu wenig Nahrungsmittel, die Familie meiner Mutter nach dem Großangriff auf Krefeld einquartiert bei, Gott sei Dank wohlwollenden, Verwandten in St. Tönis: beengte Verhältnisse, Mangel überall, aber, wie sagte meine Mutter, damals 14 heute Morgen: „es war eine Befreiung. Die grässlichen Nazis waren weg, wir mussten keine Angst mehr haben, dass uns irgendein Nachbar, Verwandter oder vermeintlicher Freund anzeigte wegen irgendwelcher Kleinigkeiten“ Und die Hoffnung stieg, dass die Soldaten zurückkehren mögen – meine Großväter haben den Krieg alle überlebt.

8.Mai 2020

75 Jahre später. Wir können uns den Mangel, der damals herrschte, und die Angst, die umging, heute überhaupt nicht vorstellen. Dennoch vergleichen viele Menschen unsere heutige Situation mit dem Krieg: Ausgangssperren, man kann nicht alles kaufen (nun ja, Klopapier und Desinfektionsmittel, Mehl und Hefe – aber keiner, der in halbwegs geregelten Verhältnissen lebt, musste auch nur ansatzweise hungern, und da es Wasser und Seife gibt, konnte man sich dennoch gut reinigen…)

Immer lauter werden die Stimmen, man solle endlich vergessen. Einen Schlussstrich ziehen. Ich meine, gerade das darf nicht geschehen. Schon an den Vergleichen der Kontaktbeschränkungen mit der Nazizeit kann man erkennen, dass man eher gedenken sollte – so, dass es bei allen ankommt.

Was wissen wir heute schon, wie sich Krieg anfühlt? Deshalb ja können wir auch sagen, die Flüchtlinge sollen lieber für ihr Land kämpfen und es wiederaufbauen, so wie unsere Eltern und Großeltern das getan haben – wie sagte meine Mutter: „hätten wir weggekonnt, wir wären geflohen“

Was wissen wir heute schon davon, wie die Angst gewesen sein muss? Sicher heute gibt es auch Nachbarn, die das Ordnungsamt anrufen, weil sie glauben, da halte sich jemand nicht an die Coronaregeln. Aber ist das wirklich das gleiche? Was erwartet einen denn? Im schlimmsten Fall ein Bußgeld, in den Knast kommt man höchstens als infizierter Flüchtling aus einer Massenunterkunft, wenn man sich gegen die Unterbringung mit Gesunden wehrt…

Ich fühle mich nicht schuldig an dem, was in der Nazizeit in Deutschland passiert ist. Nicht nur, weil meine Vorfahren keine Mitläufer waren, sondern auch, weil ich mit Mitte 50 einfach zu jung bin, um schuldig zu sein. Ich fühle mich aber verpflichtet, die Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen: die Erinnerung daran, dass entsetzliche Taten geschehen sind, nur weil Menschen einen anderen Glauben hatten oder später, als es dann auch die Konvertiten gab, einfach nur die falschen Vorfahren (denn Deutsche waren es ja, seit Jahrhunderten waren die Familien in Deutschland ansässig). Nur, weil Menschen eine andere sexuelle Ausrichtung hatten als üblich. Nur weil Menschen sich sozial für andere engagierten. Nur weil Menschen ihre Meinung laut äußerten (ja, das darf man heute in Deutschland. Manchmal bekommt man starken Widerspruch, und Hass ist keine Meinung, aber man darf die Regierung kritisieren wie man will…) Oder weil sie dem falschen, angeblich minderwertigen Volk angehörten. Oder….

Am 8.Mai wurde Deutschland vom Naziregime befreit. Nicht von den Nazis, sicher nicht. Aber von diesem Regime, das versucht hat, die Welt zu unterdrücken und ganze Völkerscharen auszurotten. Das Menschen in lebenswertes und lebensunwertes Leben einteilten.

Am 8.Mai wurde Deutschland und die Welt vom Naziregime befreit. An uns ist es heute, Deutschland auch endlich von den Nazis zu befreien – und der ganzen Welt zu zeigen, dass ein Miteinander in Frieden und Freundschaft lebenswerter ist als Abgrenzung nach außen.

Die Zeitzeugen werden älter und weniger: meine Mutter wird demnächst 90, und sie gehört ja zu den Kindern der Nazizeit. Sie hat auch erzählt, wie leicht für Kinder die Verführung war: die Freundin, ein Jahr älter und damit ein Jahr früher im BDM erzählte immer vom Turnen – der Jahrgang meiner Mutter machte nur langweiligen Kram, so dass sie nach anfänglichem Enthusiasmus zur Erleichterung ihrer Eltern nicht mehr hinwollte. Deshalb müssen wir uns erinnern und diese Erinnerung an die kommenden Generationen weitergeben, intensiv und frühzeitig: damit schon die Schüler verstehen, wie fatal es damals war.

Deshalb bin ich dafür, den 8.Mai zum Feiertag zu machen: Der Tag der Befreiung der Welt von den Nazis, als Zeichen, dass der Kampf gegen den Faschismus nie enden darf.