Eigentlich – oder vielleicht doch nicht?

Eigentlich glaube ich an unsere Demokratie und den Rechtsstaat. Eigentlich. Eigentlich habe ich auch daran geglaubt, dass, bei allen Schwächen, die USA eine rechtsstaatliche Demokratie sind. Eigentlich.

Sätze mit „eigentlich“ muss man „eigentlich“ nicht sagen, sagte unsere Gemeindereferentin immer: hatte sie recht?

Was in den USA passiert, macht mir Angst. Richter, die kriminelle Gewalttäter verurteilt haben nach dem Sturm aufs Pentagon werden kriminalisiert, die Täter begnadigt. Trump wird verklagt, aber es interessiert ihn nicht, weil er der Ansicht ist, dass alles, was „gut für das Land ist“, auch erlaubt sei. Die Mannen des Elon Musk stürmen sämtliche Behörden, klauen Daten, die nicht mal der Präsident haben will, entlassen haufenweise Mitarbeiter – und manchmal stellen sie fest, dass diese ja eigentlich doch gebraucht würden, wie z.B. die Mitarbeiter, die für Atomwaffen zuständig sind, und stellen sie dann wieder ein…
Staaten klagen gegen die Regierung und müssen damit rechnen, dass sie zwar damit durchkommen, es der Regierung aber am Allerwertesten vorbeigeht.

Trump verhökert bei „Friedensgesprächen“ mit dem Aggressor Putin die Ukraine, ohne dass diese beteiligt wird und beschimpft den Präsidenten als undemokratisch, obwohl während eines Krieges fast nirgendwo Wahlen stattfinden.

Er träumt davon, Grönland einzunehmen und den Gazastreifen zu entvölkern, um da ein Ressort für Reiche (Riviera des nahen Ostens) einzurichten, notfalls mit Waffengewalt. Wie, da leben Menschen? Ach, die kann man doch „umsiedeln“…

Rechtswidrig, Verstöße gegen die Verfassung, gegen das Völkerrecht: alles möglich. Die Bürgern seines Landes, den es ja eigentlich (da ist es wieder, dieses Wort) ab dem Tag eins nach seiner Wahl besser gehen sollte, geht es deutlich schlechter: die Lebensmittelpreise schießen in die Höhe, Menschen, die arbeiten, werden einfach so über die Grenze nach Mexiko geschickt, mit teilweise unmenschlichen Methoden. Aber die sind ihm ja auch wurscht, er brauchte sie als Stimmvieh, jetzt interessieren sie ihn nicht mehr und schon gar nicht die Oligarchen an seiner Seite.

Das sind die USA, könnte man jetzt sagen, wir aber leben in Deutschland. Wenn ich aber sehe, wie deutsche Politiker (und das sind jetzt nicht nur die der AfD) Trump verehren oder ihm zumindest bescheinigen, „einiges“ richtig zu machen (ok, das mit den Friedensverhandlungen ohne die EU, das nimmt man ihm schon ein bisschen übel, aber sonst), dann wird mir Angst und Bange. Wenn ich höre, dass die Polizei in Bayern Demos jetzt unterteilen muss in „normale Demos“ und solche, die sich „gegen CSU/CDU“ richten dann frage ich mich: wo war denn das Etikett „gegen die Grünen“ bei den Bauernprotesten? Da hat Aiwanger sogar mitgemacht. Und sie darf das anordnen, die Regierung, da es „intern“ ist, verstößt das angeblich nicht mal gegen den Gleichheitsgrundsatz. Und wenn in Bayern jetzt Referendarinnen ihr Referendariat nicht machen dürfen, weil sie aktiv bei den Fridays for Future sind und mal bei den Protesten der Extinction Rebellion (das bedeutet übrigens übersetzt Rebellion gegen das Aussterben) sich intensiv für die Natur und Klimaschutz eingesetzt hat, dann erinnert mich das an ganz dunkle Zeiten.

Merz redet immer von Notstand: Notstand, insbesondere innerer Notstand (nur um den kann es ja gehen) bedeutet nach § 91 GG gefährdete oder gestörte verfassungsmäßige Ordnung im Land (ugs. Unruhe oder Aufruhr). Na ja, wenn man Frau Klöckner, die ja wohl in der nächsten Regierung wieder Ministerin werden will, so hört und liest, sind die friedlichen, bunten Demos ja alle von linksradikalen Gewalttätern organisiert und die Teilnehmer*innen ordnet sie ebenso ein. Also mich. Meinen echt braven Mann. Meine Mama, die zwar nicht mehr hingeht ob ihres hohen Alters, aber gerne hingehen würde: jahrzehntelang hat sie die CDU gewählt und jetzt ist sie plötzlich linksradikal? Jedenfalls scheint die Union diese Demos bereits als Aufruhr zu werten, oder übertreibe ich da?

Und nein, ich will nicht noch mehr Morde in Deutschland. Aber auch keine von deutschen Mördern: es gab jede Menge Messerstechereien in diesem Jahr, die allermeisten Täter waren Deutsche, deshalb findet man darüber im Netz ziemlich wenig (Quelle Volksverpetzer).Nicht alles wird man verhindern können, aber schnellere Integration, auch in den Arbeitsmarkt, wäre ein Schritt in die richtige Richtung: bei uns im Camp sind haufenweise junge Männer, die nichts anderes wollen als arbeiten, sich selbst versorgen, Fuß fassen. Und doch müssen sie schon monatelang auf Deutschkurse warten, selbst die, bei denen eigentlich auf den ersten Blick klar ist, dass sie bleiben dürfen, z.B. Christen aus dem Iran, denen dort die Todesstrafe droht. Wer sich integrieren und arbeiten kann, kann sich deutlich leichter einfügen in die Gesellschaft als derjenige, der immer nur zusammengepfercht in einem Camp ohne Freizeitmöglichkeiten hockt.

Wer Traumata hat, der sollte psychologische Hilfe bekommen: auch da krankt es bei uns. Es gibt nicht genug Zulassungen, der Zugang zum Studium ist, genau wie in der Medizin, viel zu hoch und richtet sich nur nach Zeugnisnoten, nicht nach der Eignung.

Und – und das hat der Vorsitzende der NRW-Polizeigewerkschaft im Radio gesagt: die Polizei braucht mehr Mittel, ihre Aufgaben zu erfüllen. Er sprach nicht von neuen Gesetzen, sondern Geldern im Haushalt, die das ermöglichen würden. Sonntagsreden sind da nicht notwendig, auch neue Gesetze nicht: der Ruf nach innerer Sicherheit muss sich im Haushalt widerspiegeln.

Aber das ficht Merz nicht an, er will direkte Zurückweisungen an den Grenzen auch für die, die einen Schutzantrag stellen – absolut rechtswidrig, und, vor allem, undurchführbar: wo will er die Zollbeamten, Bundes- und Landespolizisten her nehmen, die jetzt schon überall fehlen? Der Attentäter von Magdeburg und der von München übrigens waren schon lange hier und nicht ausreisepflichtig, und zu dem von München gab es nicht mal irgendwelche Hinweise.

Zum ersten Mal in meinem Leben gucke ich nicht mit Sorge auf eine Wahl, sondern mit Angst. An den USA kann man sehen, wie leicht ein Rechtsstaat ausgehebelt werden kann. Statt gemeinsam gegen die AfD vorzugehen, beschimpft man lieber die anderen Demokraten (am allerliebsten die Grünen) – mit wem will man denn koalieren, wenn es so weit ist? Oder träumt man von der absoluten Mehrheit? Ich habe Angst vor einem „machen wir doch eine Minderheitsregierung, die AfD wird schon keinen Schaden anrichten“ – an eine etwaige Koalition „weil nix anderes geht“ will ich in meinen schlimmsten Albträumen nicht denken.

Zum ersten Mal in meinem Leben schwinden Hoffnung und Zuversicht, dass Deutschland auch nach dieser Wahl und auf Zukunft ein demokratischer Rechtsstaat bleibt, in dem es keine Deutschen zweiter Klasse gibt und niemand wegen seines Aussehens, seiner Herkunft, seiner Sprache, seines Geschlechtes oder sonstiger Abweichungen vom definierten „Normaldeutschen“ abweicht, diskriminiert wird, durch alle rechtsstaatlichen Raster fällt, oder für ihn oder sie die Menschenwürde nicht gilt.

Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich ernsthaft Angst, dass Geschichte sich wiederholt. Allerdings bin ich fest davon überzeugt: wir können das noch verhindern. Wenn wir zusammenstehen. Wenn wir laut werden und bleiben. Wenn wir Haltung zeigen und Stellung beziehen.

Ich wünsche mir, ich könnte das „eigentlich“ aus dem Eingangssatz streichen. Arbeiten wir dran. Wählen wir Menschlichkeit.

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung

80 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz kann man sehen, wie Geschichte sich wiederholt. Wir sind jetzt in der Situation derer, die damals „nichts“ gemacht haben und sind fassungslos, dass die Rechten lauter werden, dass es normal ist, Migranten als Übel anzusehen, sie zu beschimpfen, bespucken, verprügeln. Wiederholt sich Geschichte? Was früher „die Juden“ waren sind heute „die Migranten“ oder eben auch wieder „die Juden“. Was früher Deportation hieß, heißt heute „Remigration“ – wobei es am Anfang ja durchaus gewünscht war, dass Juden remigrierten, das mit der Vernichtung kam dann später. Und auch heute ziehen Menschen durch die Straßen, verprügeln Wahlkämpfer der demokratischen Parteien oder eben Menschen, die sie als Migranten ansehen. Wird definiert, wer Deutscher ist und wer nicht, egal, welche Staatsangehörigkeit jemand hat. Wiederholt sich Geschichte?

Es gibt einen großen Unterschied: wir wissen, wie es weitergeht. Erst wurde die Gefährlichkeit der NSDAP kleingeredet, glaubte man ihren Versprechungen, bemerkte man nicht, dass sie populistisch agierten und nur das sagten, was die Menschen hören wollten – ihre Ziele waren andere. Hätte man es damals wissen können? Manche sicher, manche haben es ja auch geahnt, haben das Zentrum vor der Zusammenarbeit gewarnt. Aber es kamen die gleichen Argumente wie heute: man müsse sie an dem messen, was sie liefern, wenn sie das Richtige wollten, dann müsse man doch zustimmen, es würde schon alles nicht so schlimm werden. Und wir wissen: es kam schlimmer.

Meine Mutter, inzwischen 93, sagt heute: man konnte so einiges wissen. Wenn man hinguckte. Man konnte aber auch weggucken, sich in das Lästige schicken, sich ducken, schweigen, sich einreden, dass nicht sein könne, was nicht sein darf.

Wie geht es uns heute: wir kennen die Anfänge von damals. Selbst wer, wie viele meiner Generation und älter, im Geschichtsunterricht nicht so weit gekommen sind: jeder und jede von uns hatte genügend Gelegenheit, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, selbst oder gerade, wenn die eigene Familie geschwiegen hat.

Wir sehen, wie die Argumente sich ähneln, die Forderungen sich gleichen, der Hass um sich greift: der Hass auf die, die „anders“ sind, die uns vermeintlich „umvolken“ wollen, die uns ausrotten, versklaven wollen – und selbst, wenn manches widerlegt wird, so glaubt man doch zu wissen, dass es aber so hätte sein können. Man teilt die Menschen ein in höherwertig und minderwertig, in die, die ein Lebensrecht in unserer ach so schönen Heimat haben und die, die ruhig im Mittelmeer ersaufen können, die man notfalls mit Gewalt davon abhalten muss, in unser Land zu kommen. Und wir gucken zu, viel zu viele relativieren („es wird schon nicht so schlimm werden“), gucken weg, glauben nur das, was sie glauben wollen. Ja, es ist zum Verzweifeln. Wo bleibt da die Hoffnung, wenn heute die CDU agiert wie damals das Zentrum?

Am Samstag waren wir in Köln, auf der Demo gegen rechts. Zehntausende auf den Straßen, mit fantasievollen Schildern, die sich nicht zu schade waren, stundenlang auszuharren, bis auch sie endlich den Demoweg gehen konnten, laut waren gegen Rassismus und die AfD.

Heute, beim Mittagessen, vier Frauen in meinem Alter am Nachbartisch, zwei, die relativierten und doch immer schon CDU gewählt haben und zwei, die nicht müde wurden, sachlich und fundiert darzustellen, wo sich die Geschehnisse gleichen: ein gutes Gespräch, anscheinend konnten sie ihre Freundinnen überzeugen, denn am Ende stand die Frage: wen können wir denn dann wählen?

Man hört und liest von Protesten innerhalb der CDU, von Mitgliedern, die aufbegehren dagegen, dass die Grenzen zu verrücken scheinen, die Brandmauer brüchig wird, die Grenzen des Sagbaren auch in ihrer Partei verschoben werden.

Beispiele, die zeigen, dass doch etwas anders ist als damals: wir kennen die Geschichte und haben durchaus gute Argumente. Und wir können auf die Straße gehen, wir dürfen demonstrieren, Meinungsfreiheit und Demonstrationskultur sind deutlich ausgeprägter und eingeübter. Noch braucht man – zumindest in Westdeutschland – nicht allzuviel Mut, laut zu werden. Noch können wir agieren: tun wir das. In der Hoffnung, dass dann tatsächlich nicht alles so schlimm wird, wie es könnte.

Gedanken zur Europawahl

Am Sonntag ist Europawahl. Grund genug, einmal darüber nachzudenken, was mir Europa eigentlich bedeutet. Also, eigentlich geht es ja um die Europäische Union, niemand würde Großbritannien absprechen, ein Teil Europas zu sein.

Was also bedeutet für mich die Europäische Union? Bedeutet sie überhaupt irgendwas?

Wenn man darüber nachdenkt, dass vor 80 Jahren Krieg herrschte, auf Europäischem Boden: da hat noch niemand kommen sehen, dass es einmal eine Europäische Union geben würde mit gemeinsamer Gesetzgebung und gemeinsamen Parlament so wie einen Europäischen Gerichtshof, den jeder anrufen kann, wenn er glaubt, seine Rechte würden in seinem Land micht gewahrt. Im Gegenteil: man mochte sich nicht besonders. Frankreich und Deutschland trennte eine Art „Erbfeindschaft“, die man noch nach Jahren dort spüren konnte anhand der Skepsis gegenüber Deutschen. Auch sonst gab man sich als Deutscher nicht so gern zu erkennen, in Frankreich und auch in anderen europäischen Ländern. In Heimat- und Geschichtsmuseen waren wir „die Bösen“ – ich weiß, dass ich in solchen Museen, wo es um den 2. Weltkrieg ging, immer stumm war. Vor Entsetzen, aber auch vor Angst, als eine von denen erkannt zu werden.

Nun, ich bin Jahrgang 63. Als ich zur Welt kam, gab es bereits einen Europäischen Rat (1949), die EG für Kohle und Staat (1952), einen Vertrag zur Errichtung der Europäischen Verteidigungsländer und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sowie die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie (1957). Zusammengeschlossen hatten sich Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland.
Mehr Länder kamen hinzu, die Zusammenarbeit wurde intensiver, aus der reinen Wirtschaftsgemeinschaft EWG wurde erst die EG, dann, 1993, die Europäische Union. Es gab noch Vorbehalte, Frankreich wehrte sich z.B. gegen den Beitritts Englands, aber es gab auch erste Erfolge: Binnenzölle wurden abgeschafft, was die Wirtschaft ungeheuer belebte.
1979 wurde das erste Europäische Parlament direkt gewählt – von den Bürgern aus 9 Mitgliedsstaaten. 1990 kam Schengen: ab da gab es zwischen Frankreich, Deutschland und den Beneluxstaaten keine Personenkontrollen mehr. Diesem Abkommen traten nach und nach andere Mitgliedsstaaten bei: soviel zu „Merkel hat die Grenzen geöffnet“ – die waren bereits längst offen.  Das waren erste Auswirkungen, die ich tatsächlich auch spürbar merken konnte: die langen Schlangen bei der Ein- und Ausreise in Europäische Urlaubsstaaten fielen weg, man konnte mal eben in die Niederlande zum Einkaufen, ganz ohne Zollkontrolle.
Auch die Währungsgemeinschaft nahm immer mehr Formen an: am 1.1.2002 kam der Euro dann auch als Bargeld in 12 Staaten, auch das wurden nach wie vor mehr. Inzwischen ist die EU ein Verbund von 27 Staaten, der folgendes klar hat: das, was sinnvoll ist, wird gemeinsam geregelt, da, wo es nicht notwendig ist, tritt das Subsidiaritätsprinzip in Kraft. Grundrechte und nationale Identitäten sind ausdrücklich geschützt.

Was aber genau habe ich davon, wenn man das Schengener Abkommen mal weglässt und die Tatsache, dass ich nicht mehr immer Geld tauschen muss, wenn ich ins Ausland fahre? Reisen ist definitiv leichter geworden, auch, was den Krankheitsfall angeht. Ich kann überall elektronisch zahlen. Und ich kann davon ausgehen, dass bestimmte Gundlagen existieren: z.B. das Trinkwasser durch die Leitungen fließt, wenn nichts anderes angegeben ist und ähnliche gesundheitsschützende Maßnahmen.

Die Europäische Union erleichtert den Handel untereinander. Ich kann überall in der EU wohnen und arbeiten, diese Freizügigkeit ist ein Segen. Was passiert, wenn diese nicht mehr existiert, kann man gerade in England beobachten: die vielen Mediziner vom Festland, die dort ganz oder teilweise gearbeitet haben, sind weg, überhaupt ist es für EU-Ausländer schwieriger geworden, so dass an allen Ecken und Enden Ärzte fehlen und andere Fachkräfte.

Die Wirtschaft sieht sich plötzlich mit Zöllen konfrontiert, was Waren teurer macht, das Transportwesen mit langen Wartezeiten an den Grenzen: das alles macht die Lage in England schlechter, was jetzt auch Menschen sehen, die für den Brexit waren.

Das heißt im Umkehrschluss: auch darin liegen für uns Vorteile, die wir so im Alltag vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen.

Hinzu kommt aber noch mehr: wir handeln miteinander, wir tauschen uns aus, wir leben die Freizügigkeit: das alles führt dazu, dass alte Feindschaften aufgebrochen werden, Vorbehalte entkräftet und wir letztendlich fast 80 Jahre Frieden haben.

Diese Dinge sollten wir, auch wenn wir vielleicht einiges kritisch sehen an der EU, einiges als ungerecht empfinden, einiges lieber national geregelt sähen nicht aufgeben. Und wie es weitergeht, das haben wir in der Hand: wenn wir am Sonntag ein neues Parlament wählen dürfen.

Stärken wir die demokratischen Parteien, gehen wir wählen, geben wir den Rechten und den Spaltern keine Chance, damit wir weiter friedlich zusammenleben können.

75 Jahre nach Kriegsende

Kriegsende. 8. Mai 1945

Ich stelle es mir mal vor, so, wie es die Mitglieder meiner Familien erlebt haben müssen, die gerade keine Mitläufer waren: endlich raus aus der Angst, endlich wieder frei leben können.

Und es war Frühling, die Natur wagte einen Neuanfang – das half.

Die Situation damals war sicher alles andere als gut: zu wenig Nahrungsmittel, die Familie meiner Mutter nach dem Großangriff auf Krefeld einquartiert bei, Gott sei Dank wohlwollenden, Verwandten in St. Tönis: beengte Verhältnisse, Mangel überall, aber, wie sagte meine Mutter, damals 14 heute Morgen: „es war eine Befreiung. Die grässlichen Nazis waren weg, wir mussten keine Angst mehr haben, dass uns irgendein Nachbar, Verwandter oder vermeintlicher Freund anzeigte wegen irgendwelcher Kleinigkeiten“ Und die Hoffnung stieg, dass die Soldaten zurückkehren mögen – meine Großväter haben den Krieg alle überlebt.

8.Mai 2020

75 Jahre später. Wir können uns den Mangel, der damals herrschte, und die Angst, die umging, heute überhaupt nicht vorstellen. Dennoch vergleichen viele Menschen unsere heutige Situation mit dem Krieg: Ausgangssperren, man kann nicht alles kaufen (nun ja, Klopapier und Desinfektionsmittel, Mehl und Hefe – aber keiner, der in halbwegs geregelten Verhältnissen lebt, musste auch nur ansatzweise hungern, und da es Wasser und Seife gibt, konnte man sich dennoch gut reinigen…)

Immer lauter werden die Stimmen, man solle endlich vergessen. Einen Schlussstrich ziehen. Ich meine, gerade das darf nicht geschehen. Schon an den Vergleichen der Kontaktbeschränkungen mit der Nazizeit kann man erkennen, dass man eher gedenken sollte – so, dass es bei allen ankommt.

Was wissen wir heute schon, wie sich Krieg anfühlt? Deshalb ja können wir auch sagen, die Flüchtlinge sollen lieber für ihr Land kämpfen und es wiederaufbauen, so wie unsere Eltern und Großeltern das getan haben – wie sagte meine Mutter: „hätten wir weggekonnt, wir wären geflohen“

Was wissen wir heute schon davon, wie die Angst gewesen sein muss? Sicher heute gibt es auch Nachbarn, die das Ordnungsamt anrufen, weil sie glauben, da halte sich jemand nicht an die Coronaregeln. Aber ist das wirklich das gleiche? Was erwartet einen denn? Im schlimmsten Fall ein Bußgeld, in den Knast kommt man höchstens als infizierter Flüchtling aus einer Massenunterkunft, wenn man sich gegen die Unterbringung mit Gesunden wehrt…

Ich fühle mich nicht schuldig an dem, was in der Nazizeit in Deutschland passiert ist. Nicht nur, weil meine Vorfahren keine Mitläufer waren, sondern auch, weil ich mit Mitte 50 einfach zu jung bin, um schuldig zu sein. Ich fühle mich aber verpflichtet, die Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen: die Erinnerung daran, dass entsetzliche Taten geschehen sind, nur weil Menschen einen anderen Glauben hatten oder später, als es dann auch die Konvertiten gab, einfach nur die falschen Vorfahren (denn Deutsche waren es ja, seit Jahrhunderten waren die Familien in Deutschland ansässig). Nur, weil Menschen eine andere sexuelle Ausrichtung hatten als üblich. Nur weil Menschen sich sozial für andere engagierten. Nur weil Menschen ihre Meinung laut äußerten (ja, das darf man heute in Deutschland. Manchmal bekommt man starken Widerspruch, und Hass ist keine Meinung, aber man darf die Regierung kritisieren wie man will…) Oder weil sie dem falschen, angeblich minderwertigen Volk angehörten. Oder….

Am 8.Mai wurde Deutschland vom Naziregime befreit. Nicht von den Nazis, sicher nicht. Aber von diesem Regime, das versucht hat, die Welt zu unterdrücken und ganze Völkerscharen auszurotten. Das Menschen in lebenswertes und lebensunwertes Leben einteilten.

Am 8.Mai wurde Deutschland und die Welt vom Naziregime befreit. An uns ist es heute, Deutschland auch endlich von den Nazis zu befreien – und der ganzen Welt zu zeigen, dass ein Miteinander in Frieden und Freundschaft lebenswerter ist als Abgrenzung nach außen.

Die Zeitzeugen werden älter und weniger: meine Mutter wird demnächst 90, und sie gehört ja zu den Kindern der Nazizeit. Sie hat auch erzählt, wie leicht für Kinder die Verführung war: die Freundin, ein Jahr älter und damit ein Jahr früher im BDM erzählte immer vom Turnen – der Jahrgang meiner Mutter machte nur langweiligen Kram, so dass sie nach anfänglichem Enthusiasmus zur Erleichterung ihrer Eltern nicht mehr hinwollte. Deshalb müssen wir uns erinnern und diese Erinnerung an die kommenden Generationen weitergeben, intensiv und frühzeitig: damit schon die Schüler verstehen, wie fatal es damals war.

Deshalb bin ich dafür, den 8.Mai zum Feiertag zu machen: Der Tag der Befreiung der Welt von den Nazis, als Zeichen, dass der Kampf gegen den Faschismus nie enden darf.

Europa vor der Wahl

Eine Zeitung, deren Abonnementin ich bin, bittet um Zuschriften, was für den Leser Europa bedeutet. Grund genug für mich, einmal darüber nachzudenken…
Meine erste bewusste Begegnung mit Europa ist schon ziemlich lange her – ich war fünf oder sechs, meine Mutter hatte eine Freundin direkt an der niederländischen Grenze und da hab ich dann einen Fuß ins Nachbarland gesetzt und zu hören bekommen: das darf man nicht einfach so, da ist eine Grenze, das darf man nur an offiziellen Übergängen. Später dann fuhren wir nach de Efteling oder auch mal nur nach Venlo – und in unserem alten R4 war es immer wieder spannend, wenn die Grenzer prüfend guckten. Haben Sie was zu verzollen hieß es, wenn wir mit dem Diesel meiner Eltern mal eben zum Tanken über die Grenze hüpften – und da haben wir gelernt, dass ein alter, kaputter, ausgedienter Fernseher im Kofferraum etwas ist, was man anmelden muss. Grenzerfahrungen auch an der Grenze zu Lothringen, wo Verwandtschaft wohnte – noch ein bisschen spannender, weil die fremde Sprache doch alles irgendwie unheimlicher machte.

Dann die Staus auf dem Weg in den Sommerurlaub nach Osttirol. Immer vorher klären, was man an Lebensmitteln gerade mitnehmen durfte und was nicht – und wenn der Grenzer dann fragte, warum wir mehr Kleidung mithatten, als man in 3 Wochen tragen kann (die wurde an arme Bergbauernfamilien weitergegeben), dann kamen meine Eltern ins Schwitzen.

Und dann plötzlich war das alles vorbei. Man konnte überall hinfahren, solange es nicht Richtung Osten ging – aber auch das wurde ja dann besser. Keine Staus mehr an den Grenzen, keine unkalkulierbaren endlosen Wartezeiten mehr, keine peinlichen Fragen der Grenzer – die Welt war zusammengerückt. Rund 15 Jahre später rückte alles noch etwas mehr zusammen: der Euro kam, in den meisten Ländern war das Geldumtauschen Geschichte, man brauchte keine Umrechnungstabellen mehr.

Was für mich Europa bedeutet? Dass wir gemeinsam das stemmen, was ein Land alleine nicht hinbekommt. Das nicht jedes Land das Rad neu erfinden muss. Dass Handel und Reisen leicht gemacht werden und jeder da studieren und arbeiten kann, wo es für ihn richtig und wichtig ist. Das ein Parlament, was von den einzelnen Staaten unabhängig ist, dafür sorgt, dass es einheitliche Standards gibt, die nicht unterlaufen werden dürfen. Das wir gemeinsam versuchen, den Klimawandel und die Umweltzerstörung in den Griff zu bekommen – und dabei dem einen oder anderen auch auf die Finger geklopft wird. Es bedeutet gemeinsam stark, in der Vielfalt der Länder. Ich bin in erster Linie Rheinländerin vom Niederrhein. Das darf ich bleiben. Dann bin ich Deutsche, auch das bin ich gern. Aber als solche bin ich eben auch Europäerin – es ist mir nicht egal, wie die Menschen in Griechenland oder Rumänien mit ihrem Leben klarkommen. Wir gehören zusammen.

Es gibt ne Menge, was nicht richtig funktioniert. Es gibt wenige Instrumente, die wirklich Dinge regeln. Aber die Richtung stimmt – jedenfalls dann, wenn wir das wollen und Europa positiv unterstützen.