Seit 19 Jahren ist der 11. September ein Tag, an dem die
Welt sich erinnert – an einen schrecklichen Terroranschlag, dem mehrere Tausend
Menschen zum Opfer fielen: Menschen, die aus den brennenden Türmen sprangen,
weil sie nicht verbrennen wollten, und ähnliche Szenen haben sich auf unsere
Netzhaut gebrannt – selbst die, die damals noch klein waren, haben diesen Tag
im Gedächtnis. Für meine Familie war er besonders nah: mein Mann war am Tag
vorher nach New York geflogen, erst abends um 7 konnte er sich melden, und wir
bangten lange, ob und wie er wieder nach Hause kommen würde. Unsere Jüngste war
noch im Kindergarten – ich glaube, unsere Kinder haben den Tag, und die Angst,
die wir hatten, genauso abgespeichert wie ich. Es war ein Tag der Apokalypse,
keiner wusste, wie es weitergehen konnte. Gewalt erzeugt Gewalt – und so zog
dieser Tag Drohgebärden und Kriegsgeschrei nach sich, die endgültige Einteilung
der Welt in gut und böse, Terror, Krieg, Angst, Schrecken und Schuldzuweisungen
nahmen zu in einer Welt, in der man doch eigentlich aufgeklärt weiter sein
sollte.
19 Jahre danach: was hat sich geändert? Immer noch steht das
Gedenken an diese Menschen im Fokus der Welt, in New York, in den USA, aber
auch in der ganzen westlichen Welt. Und das ist richtig und wichtig. Aber der
Tag mahnt auch, genauer hinzusehen: Die Opfer waren bunt gemischt: Menschen
jeder Hautfarbe, Menschen aus der ganzen Welt, Christen, Juden, Muslime,
Atheisten – im Tod waren und sind sie alle gleich. Auch unter den Opfer gab es
sicher gute Menschen und weniger gute, Menschen, die Dreck am Stecken hatten,
Menschen, die nur ihren Vorteil wahren wollten genau wie Menschen, die anderen
zugetan waren, helfen wollten, für eine bessere Welt kämpften. Sie alle vereint
im Tod, einem Tod durch Hass, einen Hass auf die „westliche Welt“, die als
Bedrohung angesehen wurde und wohl auch noch wird – und es in Teilen sicher
auch ist, denn der Westen, wie man so schön sagt, ist gut darin, den Menschen
zu sagen, was richtig und was falsch ist, wie man zu leben und wie man zu
glauben hat und wer wo und wie welche Rechte hat oder eben nicht.
19 Jahre danach sind wir an einer ähnlichen Katastrophe
knapp vorbeigeschrammt: das Lager Moria ist abgebrannt, es lebten dort 5 mal so
viel Menschen, als eigentlich „passten“ und es ist ein Wunder, dass es
augenscheinlich keine Toten gegeben hat. Diesmal war es kein Terroranschlag, es
wird wohl nie zweifelsfrei geklärt werden, wie es zu dem Feuer kam. Diesmal
sind die Reaktionen der „westlichen Welt“, insbesondere Europas, aber deutlich
anders: zwar spricht man von einer humanitären Katastrophe, gerne so, als sei
sie plötzlich über uns zusammengebrochen und nicht schon lange Zeit im
Entstehen. Aber statt schnell und unbürokratisch zu helfen, wird erst einmal diskutiert,
wer helfen muss und wem und warum…
19 Jahre danach haben die Menschen wieder Angst: die einen
berechtigt um ihr Leben, weil sie in menschenunwürdigen Zuständen dahinvegetieren,
die anderen vor einer Krankheit, die sie nicht einschätzen können, vor dem
Verlust ihres Wohlstandes, und vor allem vor diesen Menschen aus Moria, die
vielleicht doch alle Verbrecher sein könnten und unsere Heimat in Brand setzen…
19 Jahre danach haben wir nichts, aber auch gar nichts
gelernt – wir teilen die Welt immer noch ein in gut und böse, in Opfer, die an
ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld sind und Menschen wie wir, die ein
Recht darauf haben, in Ruhe gelassen zu werden.
19 Jahre danach sind Menschen immer noch nicht gleich –
obwohl wir der Toten von damals gedenken, ungeachtet ihres Hintergrundes,
sortieren wir alle anderen ein – ja wie eigentlich?
Aber ich merke auch das Gegenteil. Ich merke auch, dass
immer mehr Menschen wach werden, dass immer mehr Menschen aufhören, Menschen in
irgendwelche Schubladen zu stecken, dass immer mehr Menschen kapieren, dass wir
alle im Grunde gleich sind in unserer Verschiedenheit: Menschen mit dem
gleichen Recht auf Leben.
Sorgen wir dafür, dass diese Erkenntnis weiter um sich
greift. Gehen wir ohne Vorurteile auf andere Menschen zu, lassen uns auf ihre
Andersartigkeit ein und geben ihnen einen Platz in diesem, unserem Leben. Ich
glaube, das kann Kreise ziehen. Wie heißt es doch: ins Wasser fällt ein Stein,
ganz heimlich still und leise, und ist er noch so klein, er zieht doch weite
Kreise…
Wenn jeder von uns versucht, vorurteilsfrei auf andere Menschen
zuzugehen, und jeder hilft, dass andere Menschen auch ein Recht und die Möglichkeiten
hat, menschenwürdig zu leben, jeder das seine dazu tut, dass diese Welt nicht
noch mehr zerstört wird und somit Verteilungskämpfe zunehmen, dann, ja dann
keimt die Hoffnung, dass ein nineeleven nie wieder passieren wird.